Von der Radeberger Lehrmolkerei Heinrichsthal zur ersten Camembert-Fabrik Deutschlands
von Renate Schönfuß-Krause
Vor 140 Jahren – Der deutsche Camembert französischer Art begann seinen Siegeszug vom Radeberger Heinrichsthal aus
bis in die heutige Zeit
Vor 140 Jahren – Der deutsche Camembert französischer Art begann seinen Siegeszug vom Radeberger Heinrichsthal aus bis in die heutige Zeit
Leseprobe:
Einer unglaublich tatkräftigen Frau wie Agathe Zeis, geb. Rudolf, die auch heute noch mit dem Prädikat einer „Powerfrau“ ausgezeichnet werden würde, ist es zu verdanken, dass sie mit der Gründung
der Lehrmolkerei Heinrichsthal 1880 den Grundstein für den Beginn einer innovativen Milchwirtschaft in Radeberg legte, die bis heute erfolgreichen Bestand hat. Als Unternehmerin gelang es ihr ab
1883/84 mit ihrem unvorstellbaren Pioniergeist und Forscherdrang, erstmalig im Deutschen Reich[i]
Weichkäse nach französischer Art wie Camembert, später auch Brie und Neufchâtel, herzustellen und zu vermarkten. Es bedeutete damals durchaus eine kleine Sensation, dass es ihr, einer einfachen
Frau und Bäuerin,
gelungen war, dieses besondere Herstellungsverfahren für Camembert nach französischer Art, welches die Kenntnis der Wirkung von Mikroorganismen voraussetzte, als erste Milchwirtschaftlerin in
Deutschland zu entwickeln und einzuführen. Und das in höchster Qualität, wie die Auszeichnungen ihrer Produkte mit zahlreichen Goldmedaillen in den folgenden Jahren dokumentieren sollten.
Damit wurde Agathe Zeis zur ersten Produzentin, die mit diesen Milchprodukten der Weichkäserei den traditionellen Grundstein für eine innovative Milchwirtschaft und Käsetechnologie legte, die sich seit mehr als 140 Jahren kontinuierlich in Radeberg, aber auch in ganz Deutschland, weiterentwickelt hat. Durch die Nachahmung dieser bisher in Deutschland weitestgehend unbekannten neuen Art der Fett- und Weichkäseherstellung aus Frankreich, wie dem Camembert mit edlen Weißschimmelkulturen, gelang es ab 1884 zunehmend, mit der inländischen Produktion die Effektivität der deutschen Land- und Milchwirtschaft bedeutend zu erhöhen und die Einfuhr ausländischer teurer Waren zurückzudrängen. Diese „nationale Tat“ wurde 1886 mit der Ehrenmedaille Wilhelm I. gewürdigt.
Die Erfolgsgeschichte der Agathe Zeis beruhte auf ihrem Forscherdrang, mit dem sie bei zahlreichen Hospitationen innerhalb Deutschlands, aber auch in Frankreich, später auch in Nordamerika und der Schweiz Fachwissen erwarb, welches mit den in der Milchwirtschaft gerade aufkommenden naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der gezielten Nutzung des Wissens über mikrobiologische Prozesse bei der Milchverarbeitung und Käseherstellung einherging. Ihr gelang es, bei ihrer praktischen Arbeit mit vielen Experimenten, die „richtige Formel“ des Einsatzes der Mikrokulturen für die Käsetechnologie zu finden, einer damals noch jungen, ziemlich unerforschten Wissenschaft der Bakteriologie.
Wie hoch und bedeutend ihre Arbeit in Fachkreisen eingeschätzt wurde und immer noch wird, dokumentieren eine Vielzahl Beiträge von Zeitzeugen über ihr Wirken, ihre Erfolge und Auszeichnungen in
Fachzeitungen für Land- und Milchwirtschaft. Besonders der Milchwirtschaftliche Verein hatte großen Einfluss auf ihre Entwicklung zu einer unübersehbaren Persönlichkeit der
Milchindustrie, einer Tatsache, die für eine Frau des 19. Jahrhunderts in einem von Männern dominierten Berufszweig alles andere als selbstverständlich war. Dieser Verein hatte sich seit
seiner Gründung 1874[iii]
in Bremen durch Milchwissenschaftler Benno Martiny (1836–1923) und unter Vorsitz von Wilhelm Graf von Schlieffen
(1829–1902) als eine internationale Gesellschaft für die allseitige Förderung des Molkereiwesens eingesetzt. In ihm fanden sich alle für die Milchwirtschaft fortschrittlich tätigen und
forschenden Persönlichkeiten dieser Zeit und man kontaktierte Ländergrenzen übergreifend zusammen.[iv]
Wichtige Grundlage für die Vereinsarbeit war durch die Herausgabe einer ersten „Milchzeitung“ ab 1871 durch Prof. Benno Martiny geschaffen worden, mit der Informationen über Forschungsergebnisse
erfolgten, technische Neuheiten, Molkerei-Ausstellungen, Preiswettbewerbe u.a.m. Außerdem unterstützte die Gesellschaft ihre Mitglieder maßgeblich mit Rat und Tat bei Einrichtung von Molkereien,
aber auch zur Durchsetzung geschäftlicher Interessen der Preispolitik, bis hin zu Petitionen an den Reichstag zu Gesetzentwürfen.[v]
Ein großes Lob wurde Agathe Zeis in der französischen Fachzeitschrift „L‘ Industrie
Lattieré“ durch den Herausgeber Mr. Lezé gewidmet, der in Frankreich ein hervorragender Fachmann und genauer Kenner auf dem Gebiet der Milchwirtschaft nicht nur seines Landes, sondern auch
anderer Nationen war. Er würdigte sie in seinem Nachruf, nach ihrem Ableben am 27. Dezember 1887, für ihre Verdienste um die Nachahmung der französischen Weichkäse und deren Einführung und
Geltendmachung in Deutschland[vi]:
„Wir haben mit Bedauern den Tod der Frau Agathe Zeis, der Vorsteherin der Lehrmolkerei Heinrichsthal in Deutschland, vernommen. Frau Zeis hatte vielleicht keine große Liebe für unser Land,
obgleich sie gute Erinnerungen für die Studien und Erfahrungen behielt, welche sie auf ihren Reisen in Frankreich sammelte. Aber sie war eine aufopferungsfreudige, mutige Frau, kenntnisreich,
voll freudiger Tatkraft. Sie hat in Sachsen die größten Fortschritte auf dem Gebiet der Milchwirtschaft gemacht, ihr ist die Einführung der Fabrikation unserer Weichkäse in Deutschland, welche
unseren einheimischen gleich sind, zuzuschreiben. Man könnte sich wundern, ihr Lob durch meine Feder verkündet zu hören, aber ich bin der Ansicht, daß es Freiheit und Raum für alle unter der
Sonne gibt. Frau Zeis hat Camembert fabriziert, welcher besser als der unsere war, zum Vorteil unseres Camemberts, denn ich kann aus Erfahrung sagen, daß die deutsche Fabrikation nur dazu
beitragen kann, die unsrige besser zu machen, und so gewinnt jeder dabei.“
[i] Zu den Reichslanden gehörten: Böhmen, Mähren, Schlesien, Elsaß-Lothringen (Meyers Konversationslexikon, Band 5 und 13, 4. Auflage Leipzig und Wien, 1885–1892).
[ii] S. Quelle 73, S. 21
[iii] Gründung erfolgte anlässlich der internationalen Landwirtschaftsausstellung am 15. Juni 1874 zu Bremen als Milchwirtschaftlicher Verein, ab 1. Juli 1894 Umbenennung in Deutscher Milchwirtschaftlicher Verein.
[iv] Österreich, Schweiz, Dänemark, Holland, Frankreich, England, Nordamerika
[v]
Aktenstücke zur Verhandlung des Reichstages 1887, S. 516, Aktenstück Nr. 56, Drittes
Verzeichnis der bei dem Reichstage eingegangenen Petitionen: Die folgenden Petenten bitten, dem Gesetz-Entwurf, betreffend dem Verkehr mit Kunstbutter, nur zuzustimmen, wenn folgende
Bestimmungen in demselben enthalten sind (…). Journ. II. Nr. 1849. Agathe Zeis,
Molkereibesitzerin zu Heinrichsthal
[vi] Ebd. S. 69, Nachruf in Zeitschrift „Berliner Zentral-Markthalle“, 26. Jan. 1888, Nr. 4
©Renate Schönfuß-Krause
Oktober 2024
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Neben vielen anderen interessanten Beiträgen ist der Artikel über Agathe Zeis im o.g. Heft 22 als Leitartikel veröffentlicht worden.