Hendrik Martius, Nachkomme und Familienforscher:
Martius Familiengeschichte; Digitale Blätter der Familie Martius aus Asch/Egerland, Radeberger Ast.
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Spurensuche: Dr. Heinrich von Martius,
Vertreter einer berühmten Familien-Dynastie
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Das Lebensschicksal des Doktors der Medizin und Chirurgie, Gustav Heinrich von Martius (* 28.12.1781 Radeberg, † 4.8.1831 Berlin), der außerdem auch als Naturwissenschaftler, Botaniker, Schriftsteller, Historiker und Chronist tätig war, ist durchaus als außergewöhnlich für seine Zeit anzusehen. Besonders durch sein Wirken in Moskau, zu Beginn des 19. Jahrhunderts und seine wissenschaftlichen Reisen innerhalb des russischen Reiches, wurden Einblicke in bisher wenig bekannte Details des Zusammenwirkens zwischen deutschen und russischen Universitäten einschließlich des geistigen Austausches ihrer Wissenschaftler in Moskau und St. Petersburg offengelegt, aber auch das ganz normale Leben in Russland dargestellt.
Persönlichkeiten wie Heinrich von Martius gehörten zu ihrer Zeit zu der jungen Generation von Aufgeklärten, die um 1800 ihr Glück zunehmend als Deutsche in Russland oder dem Baltikum suchten oder, wie sein berühmter Verwandter Carl Friedrich Philipp Martius (1794-1868), auf den Spuren Humboldts den Amazonas erforschten. Die chronologischen Niederschriften des Dr. med. Heinrich von Martius dokumentieren in detaillierten Berichten diese vergangene Epoche und sind unschätzbare Zeitdokumente, die nicht nur Auskunft über das russische Zarenreich geben, sondern auch Einblicke in Moskauer Verhältnisse und Lebensumstände, die Anfang des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich herrschten. Nicht weniger interessant sind seine vielen medizinischen Schriften, die ab der Zeit seines Aufenthaltes im Russischen Kaiserreich entstanden sind und auf Krankenberichten beruhen, die er auf seinen Reisen in den Kaukasus, die Ukraine und Sibirien bis an die Grenze Chinas festhielt.
Aber er wurde ebenso zum ersten Chronisten seiner Heimatstadt Radeberg, indem er über 30 Jahre historische Materialien sammelte und Einblicke in die Gegebenheiten der Stadt, ihre Bevölkerung und die Umgebung festhielt. Mit seinem 1828 veröffentlichten Buch „Radeberg und seine Umgebungen - eine historische Skizze“ schuf er als erster eine Chronik der Stadt und ein heute noch hochgeschätztes Zeitbild. Eine wertvolle Besonderheit des Buches ist die Widmung an „Seine Hochgebohren dem Reichsgrafen Herrn Carl von Brühl“, der Generalintendant der Königlichen Schauspiele in Berlin /Preußen war und ein Sohn des Grafen von Brühl aus Seifersdorf bei Radeberg. Ebenfalls bedeutsam für heutige genealogische Forschungen ist das aufgeführte Subskribenten-Verzeichnis als Liste des Titelbogens, eine Mode der damaligen Zeit, um mit der gezeigten Wertschätzung der Nennung zumeist hochangesehener Persönlichkeiten den Absatz der Bücher zu forcieren und die bekanntesten Subskribenten mit Namen, Beruf und Wohnort zu benennen. In diesem umfangreichen Subskribenten-Verzeichnis, in dem übrigens auch der in Radeberg geborene und in Berlin lebende Dichter Langbein enthalten ist, mit dem er freundschaftlich verbunden war, finden sich auch als Vertreter seines Familienstammes fünf Martius-Verwandte: Der Hof- und Universitätsapotheker Prof. Dr. Ernst Wilhelm Martius in Erlangen, der Akademiker Ritter von Martius zu München (Carl Friedrich Philipp Martius, Sohn des Hofapothekers zu Erlangen und berühmter Brasilienforscher), der Major von Martius auf Schloss Kramitz/ Böhmen (Julius Moritz Sigismund von Martius, 1783-1848), der Major Ritter von Martius in Schwerin und der Bruder des Verfassers, der Apotheker Gustav Ferdinand Martius zu Radeberg.
Damit ist der Beweis erbracht, dass er sich mit seiner Familienherkunft innerhalb des Martius-Stammes bereits intensiv auseinandergesetzt haben muss, denn der „Radeberger Ast“ mit seinem Vater, dem Apotheker Dr. Johann Samuel Heinrich Martius, war mit dem „Erlanger Ast“ des berühmten Hof- und Universitäts-Apothekers Prof. Dr. Ernst Wilhelm Martius (1756-1849) und dessen Sohn, dem Brasilienforscher, unmittelbar verwandt. Beide Äste gingen aus dem Egidischen Stamm des Johann Nikolaus Martius (1629-1695) hervor, und es kann durchaus vermutet werden, dass persönliche Familienbeziehungen zwischen diesen Verwandten bestanden haben.
Die Erforschung der Familiengeschichte Martius gestaltet sich bis heute spannend, denn diese weitverzweigte Familiendynastie ist seit mehr als 400 Jahren nachgewiesen. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass der in der Literatur oft erwähnte Gelehrte Galeotto Marzio (1427-1497) aus Umbrien / Italien, als vermeintlicher Ur-Vater des Geschlechtes, durch die eigene Martius-Familienforschung als nichtzutreffend bezeichnet wird.
Der belegte Ur-Stamm und direkte Vorfahre der heutigen Martius-Familienlinien geht auf einen Matthäus Merz (* um 1508, † um 1572) aus Eger zurück. Sein Sohn Johann Merz/ Martius (* 1544 Eger, † 1616 Asch) hatte sich vor dem Dreißigjährigen Krieg in Asch/ Böhmen niedergelassen und wurde als Bürger, Ratsherr und Kastenpfleger dokumentiert. Er hatte drei Söhne namens Aegidius (Egidius, 1585-1641), Martin (1605-1676) und Georg (1597-1679).
Egidius war in Asch Ratsverwandter und Kirchenvorsteher, Martin starb unverheiratet unter dem Namen Martin Martius von Kotzau, denn er war als kaiserlicher Oberst für seine Verdienste geadelt worden, und Georg war Superintendent zu Beiersdorf / Fraureuth, als er 1679 starb.
Die beiden Brüder Egidius und Georg begründeten mit ihren Nachkommen die zwei bis heute existierenden Martius-Stämme, den Egidischen und den Georgischen Stamm der Martius, die sich nun über die Jahrhunderte von Böhmen aus mit einer reichen Nachkommenschaft zu einem weitverzweigten Geschlecht ausbreiteten, mit vielen Stammes-Ästen und Zweigen versehen. Die Linie des Egidius wurde zum einen durch seinen Sohn aus erster Ehe, Johann Heinrich (1618-1685), als „Ascher Ast“ weitergetragen, aus dem der Ascher Diakonus Christoph Friedrich Martius (1764-1810) und dessen berühmter Sohn, der „Steinklopfer Dr. Anton Martius“ (1794-1876) hervorgingen. Zum anderen fand die Linie des Egidius durch seinen in zweiter Ehe geborenen Sohn, Johann Nikolaus Martius (1629-1695), als „Nikolausscher Ast“ seine Fortsetzung. Johann Nikolaus Martius war Cantor zu Berg und hinterließ aus drei Ehen acht Söhne und zehn Töchter. Einer dieser Söhne war Georg Samuel Martius (*1664-1740), der in Redwitz Pastor Primarius und Inspektor war und ebenfalls mit dem Kindersegen von acht Söhnen und sechs Töchtern die Martius-Linie bereicherte. Sein vierter Sohn war Johann Heinrich Samuel Martius (1703-1773), Pastor in Redwitz, der wiederum sechs Söhne und zwei Töchter zeugte. Dessen jüngster und einzig überlebender Sohn, Dr. Johann Samuel Heinrich Martius (1746-1821), wurde zum Begründer der Radeberger Linie, des Radeberger Astes. Er kam 1776 als Besitzer der Apotheke in die Stadt Radeberg und verheiratete sich 1780, in zweiter Ehe, mit Rosina Sophie Schuchardt (1760-1831), der Tochter eines Radeberger Tuchmachers und Handelsherrn.
Aus dieser Ehe gingen vier Söhne und sieben Töchter hervor. Sein zweiter Sohn, der spätere berühmte Doktor med., Naturwissenschaftler, Chronist und Historiker Gustav Heinrich von Martius, führte die Familienlinie nicht weiter, da seine vier Kinder früh verstarben. Die Weiterführung des Radeberger Astes erfolgte nur durch den jüngsten Sohn, den Apotheker Gustav Ferdinand Martius (* 1792 Radeberg, † 1837 Döbeln), der ab 1820 auch zum Nachfolger des Vaters in der Radeberger Apotheke wurde. Dieser Gustav Ferdinand Martius verheiratete sich 1828 mit Amalie Heering. Aus dieser Ehe gingen vier in Radeberg geborene Töchter und ein Sohn hervor, Gustav Camillo Martius (1834-1889), der Landwirt und Gutsbesitzer in Zehren/ Meißen wurde. Gustav Camillo hatte ebenfalls wieder drei Söhne und zwei Töchter und begründete mit seiner Familie den Zweig Zehren. Sein Sohn Curt Hermann Martius (1871-1952) folgte wiederum der Familientradition und war ab 1900 der Apotheker zu Einsiedel/ Chemnitz.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Martius-Äste und Zweige des Egidischen Stammes viele Parallelen aufweisen. Fast ungewöhnlich erscheint es in diesem Zusammenhang, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeitgleiche Biografien zu verzeichnen sind, die eine ähnliche Entwicklung nahmen. Die Parallelen sind fast perfekt, vergleicht man an dem Beispiel der miteinander blutsverwandten jeweiligen Apothekerfamilien in Radeberg und Erlangen die Entwicklung ihrer Söhne zu bedeutenden Gelehrten, die als verwandte Zeitgenossen an unterschiedlichen Orten fast den gleichen Lebensweg mit ähnlichen Interessen beschritten haben. Der Radeberger Apothekersohn Heinrich Martius (1781-1831) studierte Medizin, begab sich nach Moskau, wurde als hochangesehener Doktor med. in den Adelsstand erhoben und auf seinen Reisen durch das Zarenreich auch zum botanischen Sammler, Chronisten und Historiker.
Fast zeitgleich nahm auch Carl Friedrich Philipp Martius (1794-1868), der Sohn des Erlanger Hof- und Universitätsprofessors Martius, ein Studium der Medizin und Chirurgie auf, promovierte zum Doktor und nahm, entsprechend seiner Neigung für die Botanik, gemeinsam mit dem Zoologen Johann Baptist von Spix (1781-1826) an einer dreijährigen Forschungsreise nach Brasilien in das Amazonas-Gebiet teil. Zurückgekehrt mit vielen Sammlungen und wertvollsten Präparaten, wurde auch er in den Adelsstand erhoben und zu einem der berühmtesten Naturforscher, Botaniker und Ethnographen seiner Zeit nach Humboldt erklärt.
Aber damit nicht genug, denn zu diesen beiden Martius-Vertretern kam noch ein weiterer Zeitgenosse, ein dritter berühmter Verwandter des Stammes Egidius/ Ascher Ast hinzu: Dr. Anton Johann Martius (* 1794 Asch/Böhmen, † 1876 Wernsdorf), Pfarrer zu Schönberg/ Oberes Vogtland. Auch er, der Sohn des Ascher Diakonus Christoph Friedrich Martius, (1764-1810), besaß die Geistesgaben seiner Abstammung und wurde als Mineraloge, Geologe, Archäologe und Botaniker ebenfalls zu einer Berühmtheit. Sein Lebensweg zeigt ebenfalls die Parallelen zu seinen zwei Verwandten auf, indem er nach dem Besuch des Gymnasiums in Hof ab 1812 an der Universität Jena Theologie, Medizin und Naturwissenschaften studierte, sich einem Freicorps in einem preußischen Husarenregiment gegen Napoleon anschloss und in Schlachten bei Dresden, Leipzig, Waterloo kämpfte, danach folgten Studienreisen nach Frankreich, Polen, Russland und Deutschland, um schließlich 1818 eine Pfarrstelle in Schönberg zum Broterwerb anzunehmen. Er war jedoch vor allem Naturwissenschaftler, trat als sogenannter „Steinklopfer“ in Erscheinung und wurde mit seiner Mineraliensammlung derartig berühmt, dass er im Jahr 1822 von dem Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe persönlich aufgesucht wurde und fortan mit ihm in freundschaftlichem Kontakt stand. 1844 gab er den Pfarrberuf auf und unternahm wiederum Forschungsreisen nach Ägypten, Dänemark, Deutschland Frankreich, Italien, Russland und in die Karpaten.
Diese drei Lebensläufe sind durchaus bemerkenswert. Eines Familienstammes, entwickelten sie sich an unterschiedlichen Orten fast zeitgleich mit Studienrichtungen zu Medizinern, wechselten entsprechend stark ausgebildeter Interessen in die Naturwissenschaften und begaben sich auf Forschungsreisen. Der Pfarrer Dr. Anton Martius, ebenso wie der auf Grund seiner Verdienste zum Ritter erhobene Dr. Carl F. P. von Martius und der Gelehrte Dr. Heinrich von Martius aus der Radeberger Apotheker-Linie waren also nicht nur als Radeberger-, Erlanger- und Ascher Ast Verwandte im Familienstamm Egidius, sondern alle drei verband offensichtlich, entsprechend ihrer Erbanlagen der Familie Martius, auch ein ähnlicher Lebensweg. Viele Mitglieder der Martius-Linien waren und sind bis heute in naturwissenschaftlichen Bereichen zu finden, ob als Naturforscher, Ärzte, Apotheker, aber auch in großer Anzahl als Pastoren, Lehrer, Staatsbeamte oder in militärischen Diensten, auch als Handwerker und Landwirte.
Das Leben des späteren Doktors der Medizin und Chirurgie, Gustav Heinrich Martius aus Radeberg, fiel in eine aufregende Zeit. Geboren wurde er am 28. Dez. 1781 als zweiter Sohn des hochangesehenen Radeberger Stadtapothekers, Senators, Viertel-meisters, Stadtrichters und Hospitalverwalters Johann Samuel Heinrich Martius (1746-1821) und dessen zweiter Ehefrau Rosina Sophie geb. Schuchardt (1760-1831), der Tochter eines Tuchmachers und Handelsherrn aus Radeberg. Der Vater stammte aus (Markt-) Redwitz/ Bayern und war „examinierter und privilegierter Apotheker sowie ‚Medizinae Practicus‘“.
Bevor er sich in Radeberg niederließ, hatte er als Provisor eine Apotheke in Naumburg geführt. Am 6. Juli 1776 erwarb er die Radeberger Stadtapotheke „…für 1.000 Taler nebst Wohnhaus mit ‚Wäsche-Mantel‘ (Mangel), Gärtgen und Ställen“ (ab 1837 „Apotheke zum Mohren“, heute Hauptstraße Nr. 13).
Da es zu dieser Zeit üblich war, dass Apotheker ihre Heilpflanzen selbst anbauten und Präparate herstellten, war es nicht
ungewöhnlich, ein eigenes Feld oder einen großen Garten zu besitzen. Als sich 1778 durch eine Zwangsversteigerung eines großen Gartengrundstücks vor dem Radeberger Obertor „am Lotzdorfer Weg“, eine
preisgünstige Gelegenheit zum Kauf eines großen Gartengrundstücks mit Pavillon, mehreren Gebäuden und einem steinernen Wagenschuppen anbot, ersteigerte
es
der Apotheker für nur 120 Taler weit unter Wert. Der angelegte Garten ging als „Apothekers Garten“ in den Sprachgebrauch der Radeberger Bürger über und sollte auch für die frühzeitige Ausbildung
der Söhne von Bedeutung werden.
Der Vater hatte offenbar von Anfang an große Pläne mit seinem Sohn und lenkte ihn mit strenger Erziehung frühzeitig in eine pflanzenkundliche / pharmazeutische Richtung, ganz im Bewusstsein seiner eigenen Abstammung aus der berühmten Martius-Familienlinie, die in ganz Europa eine Vielzahl von Pastoren, Apothekern, Medizinern, Naturforschern und Botanikern hervorgebracht hatte. Gemäß dieser Neigung zur Wissenschaft, als einer Besonderheit in der Familiengeschichte, wurde der Lebensweg des Sohnes Heinrich für die Heilkunde und Botanik vorbestimmt, währenddessen sein jüngerer Bruder Gustav Ferdinand (1792-1837) von Anfang an zum Apotheker und Nachfolger des Vaters in Radeberg bestimmt worden war.
Von 1786 bis 1792 besuchte Heinrich Martius die Stadtschule Radeberg, anschließend kam er nach Freiberg auf das Gymnasium, das einen ausgezeichneten Ruf besaß, und in dem er bis 1796 in „Alten Sprachen“ und studienvorbereitenden Wissenschaften unterrichtet wurde. Gleichzeitig besuchte er in Freiberg Vorlesungen an der Bergakademie, die zu dieser Zeit als die Berühmteste in ganz Deutschland galt. Hier bildete er sich für den angestrebten Beruf der Heilkunde weiter und nahm an Vorlesungen der dazugehörigen Hilfswissenschaften teil, um sich auf das geplante Medizinstudium vorzubereiten. Dazu gehörten vielseitige Vorlesungen in Chemie, Metallurgie, Mineralogie, Physik, Technologie, Mathematik und Botanik. Von 1797-1799 ließ ihn sein Vater in Frankenberg, bei dem Arzt und Apotheker Christian Gottlieb Weinart (1754-1834), in der praktischen Pharmazie ausbilden.
Wegen einer schweren Erkrankung des Vaters kehrte Martius für ein Jahr nach Radeberg zurück und begann erst ab 1801 mit dem eigentlichen Medizinstudium an der Universität Wittenberg.
Nach erfolgreichen Studien erreichte ihn 1804 eine Berufung an die Universität Moskau, um als Unteraufseher des dortigen „Kaiserlichen Museums der Naturgeschichte“ zu wirken. Damit war zusätzlich die Tätigkeit eines Bibliothekars an der erst 1803 gegründeten „Demidowschen Bibliothek“ in Moskau verbunden, die von dem berühmten Pawel Grigorjewitsch Demidow (1738-1821) gegründet und gestiftet worden war und in der die neuesten wissenschaftlichen Werke für die Universität und ihre Wissenschaftler zur Verfügung standen.
In diesem Zusammenhang muss man zum allgemeinen Verständnis Folgendes voranstellen. Deutsche waren im Russischen Kaiserreich bereits ab dem 17. Jahrhundert hoch angesehen. Bereits unter Peter I., dem Großen (1672-1725), der sein Land modernisieren wollte und in Deutschland und ganz Europa Fachkräfte anwarb, begann der Zuzug vieler Deutscher nach Russland. Bevorzugt wurden die Städte Moskau, das aufstrebende St. Petersburg und auch Riga/Livland als die „Tore zum Westen“, wo sich bald die größten ethnischen Gruppen Deutscher in eigenen Stadtvierteln, wie der Moskauer „Deutschen Vorstadt / Nemetskiy prigorod“, zusammenschlossen. Aber auch die aus Anhalt-Zerbst / Deutschland stammende Kaiserin Katharina II., die Große (1729-1796), wie auch später ihr Enkel Kaiser Alexander I. (1777-1825), setzten diese förderliche Politik fort. Katharina die Große erließ 1763 ein „Einladungsdekret“ mit vielen Vergünstigungen für Kolonisten. Damit lockte sie Tausende Deutsche in die Weiten Russlands. Die Deutschen trugen mit ihrer Kultur und ihrem Wissen maßgeblich zur Modernisierung Russlands bei, indem sie ihre eigenen Verwaltungsapparate aufbauten, eigene Kirchen, Schulen, Apotheken, Krankenhäuser, Geschäfte und Werkstätten gründeten.
Besonders hoch im Ansehen standen Ärzte und Apotheker mit ihrem Fachwissen. Die begüterten Adelsfamilien machten es sich durchaus zu eigen, nur deutsche Ärzte als Hausärzte auf ihren Gütern in Anspruch zu nehmen, die dann in den Sommermonaten die Familien auch zum Kuren in die Bäder oder in ihre Sommerhäuser und Landsitze begleiteten. Wegen des in Russland verbreiteten Aberglaubens und der Kurpfuscherei standen auch deutsche Apotheker hoch in der Gunst. Allein in St. Petersburg gab es 1822 ca. 50 deutsche Apotheken mit deutschem Personal. Diese Gegebenheiten begünstigten die Voraussetzungen für das erfolgreiche und durchaus auch einträgliche Wirken deutscher Ärzte in Russland.
Unter diesen erfolgversprechenden Voraussetzungen nahm Gustav Heinrich Martius 1804, im Alter von nur 23 Jahren, die hohe Ehre einer Berufung an die Universität Moskau an. Dass diese Berufung auf seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zurückzuführen sein musste, kann man daran ersehen, dass die Universität Moskau im Jahr 1804 zeitgleich mit ihm mehrere befähigte und bereits hochangesehene Deutsche als Gelehrte für die Bereicherung ihres Universitätsbetriebes anwarb, u. a. den damals ebenfalls bereits berühmten Zoologen Gotthelf Fischer von Waldheim (1771-1853), der einen Lehrstuhl für Naturgeschichte in Moskau erhielt, und den deutschen Botaniker Georg Franz Hoffmann (1760-1826), der eine Professur für Botanik an der Universität Moskau antrat. Das wissenschaftliche Leben in diesem großen Reich wurde maßgeblich und auf vielfältige Weise intensiv durch deutsche Gelehrte mitgestaltet. Es bestanden damals schon enge wissenschaftliche Beziehungen zwischen Universitäten Deutschlands und Russlands. Besonders in den Jahren 1802-1812 fand ein zunehmender reger wissenschaftlicher Austausch mit Studenten, Professoren und Gelehrten statt, und es entstand der von Alexander Puschkin (1799-1837) geprägte Begriff „Die Russen und die Göttingische Seele, der Göttingische Geist“. Viele russische Studenten, wenn sie auf Grund ihrer Leistungen von den Universitäten Moskau oder St. Petersburg für eine akademische Laufbahn bestimmt worden waren, erhielten ein Stipendium, um sich außerhalb des russischen Reiches zu vervollkommnen. Ein Großteil kam an deutsche Universitäten, eingeschrieben in die Matrikel als „russische Untertanen“. 1808 wurde sogar der Minister Graf Aleksej Rasumowski (1748-1822), Bildungsminister und Kurator der Universität Moskau, zum Ehrenmitglied der „Gesellschaft der Wissenschaften“ an der Universität Göttingen berufen. Die Beziehungen der Gelehrten über Ländergrenzen hinweg, der wissenschaftliche Austausch untereinander, waren sehr intensiv und schöpferisch.
Bereits am 26. August 1805, also ein Jahr nach seiner Ankunft in Moskau, gehörte Heinrich Martius, gemeinsam mit den Professoren der Universität, zu den 25 Stiftern der „Moskauer Gesellschaft der Naturforscher“, die unter Leitung des bereits erwähnten Russischen Bildungsministers Graf Rasumowski ins Leben gerufen worden war. Ein Jahr später wurde die „Naturforschende Gesellschaft“ durch einen Ukas (Anordnung der Regierung des Kaisers Alexander I.) in den Rang einer „Kaiserlichen Gesellschaft“ erhoben. In dieser Zeit vervollständigte Heinrich Martius seine Studien und erwarb 1805 das Testat als Chirurg.
Unterstützung und Förderung fand er durch den deutschstämmig-russischen Arzt Wilhelm Michailowitsch von Richter (1767-1822), der Außerordentlicher Professor für Geburtshilfe an der Universität Moskau war, Direktor der Moskauer Entbindungsanstalt und Leibarzt der Zarin Maria Feodorovna (geborene Herzogin Sophie Dorothea von Württemberg, 1759-1828). Prof. Richter hatte ebenfalls Studienaufenthalte in Deutschland belegt, war an Universitäten in Erlangen, Göttingen, Berlin gewesen und stand hochgebildet und geehrt an der Spitze der Moskauer Universität.
1806 promovierte Heinrich Martius in Moskau mittels „Examen rigorosum“ zum Doktor der Medizin, nachdem er vor der gesamten Fakultät und Zuschauern seine Demonstrationskünste an einem menschlichen Gehirn und Auge unter Beweis gestellt und eine Operation einer Schenkelamputation und eines Blasenschnittes durchgeführt hatte. Mit diesem Grad eines Doktors der Medizin war er in der oberen Gesellschaft des russischen Reiches angekommen. Auf Grund seiner Leistungen für den Staat und seiner Befähigung für sein Amt als Dr. med. wurde er vom Senat als Zivilperson, entsprechend der russischen Rangtabelle Peters des Großen (1672-1725), dem 8. Rang des russischen Adels gleichgestellt, womit er eine Uniform tragen durfte und mit „Seine/Eure Hochwohlgeboren“ angeredet werden musste.
Seiner weiteren Karriere stand nichts mehr im Weg. Er blieb vorerst weiterhin Mitglied der Universität in Moskau und wohnte im deutschen Viertel, der Nemezkaja sloboda, einem Stadtteil der Deutschen. Dieses deutsche Viertel war nur über eine um 1800 erbaute Brücke über die Jausa erreichbar, und als Stadttor zierte ein prächtiger Triumphbogen aus Stein den Eingang. Der einzige in ganz Moskau.
In den folgenden Jahren unternahm er in den Sommermonaten, während der Universitätsferien, naturhistorische Reisen durch mehrere Russische Gouvernements und ihre Nachbarländer und begann mit einer ausgeprägten Sammeltätigkeit von Pflanzen und Tieren. Dabei hielt er ebenso völkerkundliche Beobachtungen fest, wirkte als Arzt bei der Heilbehandlung bösartiger Krankheiten, wie der in Russland verbreiteten Lepra, den Pocken und der Beulenpest (Krimscher Aussatz), die besonders 1807 in weiten Gebieten der Tataren um die Stadt Cherson wütete, aber auch in den Gebieten der Kosaken am Grenzfluss Jaik ausbrach. Er begab sich zur Hilfe in diese Gebiete, wobei er auch für seine späteren Veröffentlichungen medizinische Studien betrieb. Bei einer seiner botanischen Reisen ins Innere Russlands kam er mit chinesischen Naturheilkundlern und ihren Erfahrungen in der traditionellen chinesischen Geburtshilfe in Kontakt. Diese wissenschaftlichen Unternehmungen und Hilfseinsätze als Arzt in Seuchengebieten, die durchaus mit dem Forschen für den Fortschritt der Wissenschaft und mit großen persönlichen Entbehrungen und existenziellem Einsatz einhergingen, führten ihn oft in lebensbedrohliche Situationen in den unvorstellbaren Weiten Russlands und waren mit vielen gefährlichen. Viele gefährliche Situationen sind überliefert, die er durch Naturgewalten erlebte, ob beim Durchqueren von SteppenÜberqueren reißender Flüsse, in Sand- und Schneestürmen, bei Eisgang und Flüssen verbundengroßer Kälte. Oft befand er sich in Lebensgefahr.
Sein Rang eines Dr.Doktor med. öffnete ihm auch die Türen der russischen Fürstenhäuser. Er avancierte zum Leibarzt bedeutender russischer Familien, mit denen er als deren Begleiter ebenfalls in den Sommermonaten Reisen in das Innere Russlands unternahm. So kam er 1808 mit dem Fürsten Wolchonsky nach Sibirien und in die Stadt Tubolsk, in der viele Deutsche lebten und es sogar ein deutsches Theater gab. 1809 durchquerte er als Leibarzt mit dem Fürsten Trubezkoi die Ukraine und 1810 mit dem Fürsten Dolgorucki den Kaukasus. Bei all diesen Reisen sammelte er umfangreiche Materialien für seine geplanten späteren naturhistorischen und medizinischen Veröffentlichungen, die in Form kleinerer Schriften, mit Krankenberichten und deren Heilung zur Aufklärung für die allgemeine Öffentlichkeit gedacht, von ihm angedacht waren.
Seine ersten Veröffentlichungen begann er in dieser Zeit um 1810 in Moskau in Druck zu geben, wobei sich die Realisierung durch viele Hindernisse der Zensur hinauszögerte und die Fertigstellung seines Traktates „Flora Mosquensis“ und „Tacitus, Tractat über Germanica“ sich fast zwei Jahre hinzog, bevor es abgeschlossen werden konnte. Ebenso erging es dem Druck seiner „Abhandlung über die Geburtshilfe - aus dem Chinesischen“, in deren Vorwort er eine besondere Dankeswidmung an „Seiner Excellenz Professor Richter“ richtete.
Im Herbst 1810 trat er schließlich die Stellung eines Leibarztes bei dem Russisch-Kaiserlichen Minister Graf Alexej Kirillowitsch von Rasumowski (1748-1822) an, der ihm bereits ein Jahr zuvor dieses Angebot unterbreitet hatte. Rasumowski übergab ihm, außer der Tätigkeit eines Leibarztes für seine gesamte Familie, zugleich die Direktion als Oberarzt für zwei seiner Hospitäler, die auf seinen weitläufigen Gütern der Gouvernements Pensa und Saratow lagen. Heinrich von Martius lebte in dieser Zeit auf den Landsitzen des Grafen in Petrowskoje und Jerschewe – eine Stellung, die keinerlei Wünsche offenließ. Es war in der gehobenen Gesellschaft des russischen Adels durchaus üblich, dass Leibärzte vollen Zugang zum Leben der Familie erhielten und fürstlich für ihre Dienste belohnt wurden. Besonders berühmt war Graf Rasumowskis Landsitz Gorinka/Gorenki in der Nähe Moskaus, der sich vor allem für alle Pflanzenliebhaber durch seine botanischen Anlagen mit einer Vielzahl an Gewächshäusern, Orangerien, Menagerien mit exotischen Vögeln, einer wertvollen Bibliothek und einem unvorstellbaren Reichtum an botanischen Kostbarkeiten auszeichnete und zu den prachtvollsten der Welt gezählt wurde. Die deutschen Botaniker Dr. Fischer und Dr. Londes, der Verfasser der „Göttingischen Flora“, waren mit der Leitung betraut worden. Heinrich von Martius wurde die Ehre einer Aufnahme als Mitglied im gelehrten Kreis der „Pflanzendarstellenden Gesellschaft von Gorinka“ zuteil.
Er war an der Spitze der russischen Gesellschaft angekommen. Dass er dabei gelernt hatte, sich auf diesem Parkett der höchsten Kreise Russlands zielsicher zu bewegen, wurde ihm auch später im Lebensbericht seiner Ehefrau in Deutschland bestätigt.
Um die Wertigkeit dieser Anstellung einschätzen zu können, muss man wissen, dass Graf Rasumowski nicht nur einer der höchsten Politiker, Förderer der Wissenschaften und selbst ein berühmter Botaniker war, sondern die Familie Rasumowski auf das Engste mit dem Zarenhof verbunden war. Bereits seit der Herrschaft der Kaiserin Elisabeth Petrowna I. (1709-1769), die auch 1755 per Erlass die Lomonossow-Universität in Moskau gründen ließ, wurden die Rasumowskis zu einer der einflussreichsten und begütertsten Adels-Familien Russlands überhaupt. Das ungeheure Familienvermögen ging auf den Hetmann der Ukraine, Grafen Kyrill Rasumowski, zurück, der als ein Liebling und Liebhaber der Kaiserin Elisabeth I. galt.
Der Dienstherr von Dr. Heinrich Martius, der Kaiserliche Minister Graf Alexej Rasumowski, war auch dafür bekannt, dass sich in seinem Palast in Moskau täglich, ohne Einladung, mehrere hundert Gäste ganz selbstverständlich an der Tafel des Ministers zusammenfanden. Diese ständige interessante Mischung und die Einflüsse durch die Kontakte mit Adligen, internationalen Wissenschaftlern, Professoren der Universität, hohen Offizieren, aber auch Glücksrittern und Hochstaplern, prägten das Umfeld von Martius. Überliefert ist, dass an Feiertagen bis zu zweitausend Menschen im Palast Rasumowski ein- und ausgingen und beköstigt wurden. Als Rasumowski 1822 verstarb, war er hoch verschuldet und das riesige Vermögen nur noch eine Legende…
Heinrich von Martius, der zwar auf Grund seiner Stellung als Arzt bereits in den Rang eines Adligen gestellt worden war, wurde auf Grund seiner Verdienste um die Erschließung des russischen Reiches, seiner Einsätze in Seuchengebieten und für die wissenschaftliche Erforschung der Krankheiten, sowie seiner Verdienste auf medizinischem und botanischem Gebiet Russlands, in den Adelsstand mit der Titulierung „von Martius“ erhoben und erhielt das Adelsdiplom. Förderlich war dabei die hohe Stellung Rasumowskis als „Kaiserlicher Reichsminister“ und die Fürsprache vieler Förderer.
Das Jahr 1812 sollte zu seinem Schicksalsjahr in Russland werden. Der Napoleonische Krieg mit dem legendären Brand von Moskau (14.-18. Sept. 1812) veränderte sein weiteres Leben: „Er verlor sein gesamtes, nicht unerhebliches Vermögen, seine sehr ansehnliche, in chemischer, pharmakologischer und botanischer Hinsicht wichtige Bibliothek von mehr als 8.000 Bänden, sein aus 12.000 Gattungen bestehendes, an Alpenpflanzen reichhaltiges Herbarium sibirischer und kaukasischer Pflanzen, reich an Cryptogamen und Fukusarten aus China, gleichwie eine köstliche Sammlung von Zoophyten aus dem Meere von Kamtschatka“ (Nekrolog d. Deutschen/Bd.2). Ein unvorstellbarer Schicksalsschlag.
Moskau stand in Flammen - Dr. Heinrich von Martius stand plötzlich vor dem Nichts!
1815 erbat er sich von seinem Dienstherrn, Graf Rasumowski, einen sechsmonatigen Urlaub, um nach Jahren in der Fremde und auch dem besorgten Drängen und Bitten seiner Familienangehörigen in Radeberg folgend, diese zu besuchen und einige literarische Arbeiten in der Heimat zu veröffentlichen. Zurückgekehrt nach Radeberg, beschloss er, in Sachsen zu verbleiben, da sich die Lage nach der Napoleonischen Zeit zu verbessern schien. Im Jahr 1815 schrieb er sich nochmals an der Universität Leipzig an der medizinischen Fakultät ein, um auch in Deutschland seine Zulassung als Arzt zu erhalten. Er absolvierte erfolgreich am 22. Juni 1816 als „Leibmedicus des Fürsten Rasumowsky“ das beschleunigte und vereinigte theoretische und praktische Examen. Die Beleg- bzw. Praktikumsarbeit mit dem Titel De Lepra Taurica (Die Krimmsche Krankheit) wurde in Leipzig herausgegeben. Martius hatte diese Arbeit Seiner Excellenz Graf Alexej Kirillowitsch von Rasumowski gewidmet. Gleichzeitig war das die zweite Dissertation von Martius, mit der er am 2. August 1816 seinen zweiten Doktor-Titel als „Doktor der Medizin und Chirurgie“ erhielt.
Bereits am 29. Juni 1816 erhielt er seine „Pro Licentia“ (die Erlaubnis) als Arzt und begann in Bautzen/ Oberlausitz als Dr. med. zu praktizieren. Hier lernte er Friederike Emilie Auguste Probst (* 1800, bis nach 1841 nachgewiesen) kennen und ging am 21. Juni 1818 im Dom St. Petri zu Bautzen mit der 18-jährigen Tochter des Senators und Oberamts-Advokaten Johann Gottfried August Probst (1770-1833) die Ehe ein. Als ihm 1818 das Physikat des Nossener Amtes übertragen wurde, fühlte er sich durch diese Tätigkeit eines „obrigkeitlich bestellten Arztes“, mit überhäuften und teilweise unliebsamen Amtsgeschäften, als Visitator von Ärzten, Apothekern und Hebammen, bald eingeengt und unbefriedigt. Der Amtsbezirk zählte drei Städte und 27 Ortschaften. Er vermisste zunehmend den schöpferischen und geistigen Austausch, die Kontakte zu wissenschaftlich hochgebildeten Männern, zu Universitäten, die Disputation gelehrter Abhandlungen, Spezialzeitschriften, Rezensionen, wie er es von dem Aufenthalt in Moskau gewohnt war. Seine ersten Visitationen als Amtsphysikus sind am 25. Juni 1818 in zwei Apotheken von Rosswein im Amtsbezirk Nossen verzeichnet, sein erster Jahresbericht der Visitationen von 1818 lag dem Königlich Sächsischen Sanitäts-Kollegium am 3. Januar 1819 vor und wies auf viele Nachlässigkeiten des Berufszweiges hin. Seine Vorschläge an das Kollegium, mit strengeren Maßnahmen und veränderten Kontrollmöglichkeiten bei Hebammen und Chirurgen das Wohl der Volksgesundheit umfassend zu verbessern, brachte ihm schnell Gegnerschaft ein, die auch nicht zurückschreckte, ihm Amtsmissbrauch und Verletzung seiner Dienstpflichten vorzuwerfen.
Dieser Kleinkrieg, diese Missstände und Widerstände im Physikat wurden zu einem auf Dauer kräftezehrenden Prozess für ihn. Als er schließlich als gerichtlich bestellter Amtsarzt für eine arme Frau eines Tagelöhners eintrat und durch sein ärztliches Gutachten eine Klage gegen den Amtsverwalter des Kammergutes Zelle auslöste, der die hochschwangere Frau zu Frondiensten gezwungen und worauf diese in Folge den Tod gefunden hatte, begann ein sich über ein Jahrzehnt hinziehender Prozess. Heinrich von Martius musste die Beugung des Rechts durch den Staat gegenüber einer unschuldigen Leibeigenen und ihrer verarmten Familie erleben. Am 3. Oktober 1825 wandte er sich mit einem Schreiben an den König, um auf die Missstände aufmerksam zu machen und brachte damit eine Untersuchungslawine in Gang, die seine Feinde gegen ihn auf den Plan rief. Da ihm eine falsch gestellte Diagnose und das eigenmächtige Einrichten eines Blattern-Impfdistrikts vorgeworfen werden konnte, kam es am 26. Dezember 1826 zu einem Spruch des Schöffenstuhls in Leipzig und in Folge der weiteren Bearbeitung am 28. August 1827 vor dem Gericht Nossen zu seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die er nach Einspruch beim König in eine Geldstrafe wandeln konnte. Durch die Sächsische Landesregierung wurde schließlich seine Dienstentsetzung betrieben, und er wurde zum Ende des Jahres 1827 aus seinem Amt entlassen. Dieser für ihn und seine Familie durchaus auch wirtschaftliche Schlag ging einher mit einem gleichzeitigen familiären Schicksalsschlag, derDrama, das ebenfalls zu dieser Zeit eintrat: der VerlustTod seines am 30. Dezember 1827 geborenen dritten Sohnes Carl Reinhold, der bereits am 30. Dezember 1827 geboren, nur wenige Tage später, am 8. Januar 1828, in Nossen verstarb. Bereits sein erster Sohn war am 16. Mai 1820 in Nossen tot geboren worden und als Frühgeburt namenlos im Kirchenbuch verzeichnet. Ein weiterer Sohn, Heinrich Kurt, war ebenfalls 1827 verstorben, und nur seine Tochter Auguste Camilla (* 1823) war ihm geblieben.
Diese Anhäufung der Schicksalsschläge, seine untergrabene gesellschaftliche Stellung und das einengende Provinzleben veranlassten ihn zu dem Entschluss, Sachsen zu verlassen.
Am 16. Juni 1828 ging er, auf Zuspruch und Ermutigung von Freunden, wie dem in Berlin lebenden Dichter und Privatgelehrten August Friedrich Ernst Langbein (1757-1835) aus Radeberg, mit seiner Familie nach Berlin, um in dieser weltoffenen, pulsierenden Stadt wieder als praktischer Arzt zu wirken. Er wurde ehrenvoll in Preußen aufgenommen, und die sonst erforderliche Prüfung für die Aufnahme als Arzt in den preußischen Staaten, wurde ihm auf Grund seines Könnens und seiner Verdienste erlassen. Ihm wurde sogar durch den Minister von Altenstein, den Hofmarschall von Maltzahn, den Generalstabsarzt von Wiebel und den Staatsrat Hufeland, die ihm bei einem Empfang alle mit herzlicher Achtung und Würdigung entgegenkamen, bereits sein Eintritt in den Staatsdienst in Aussicht gestellt. Er fühlte sich in Berlin sofort wieder wohl, war er doch wieder an der Quelle jeglicher Wissenschaften und Künste angekommen, im Kreis bedeutender Persönlichkeiten, die geistigen Austausch und Anspruch mit sich brachten. Er begann sofort wieder Veröffentlichungen aus seinen jahrelangen wissenschaftlichen Sammlungen und Studien zu planen und in Angriff zu nehmen. In zahlreichen Zeitschriften und Blättern erschienen seine Arbeiten, und er plante die Fertigstellung seines großen Pflanzenwerkes über die russische Flora.
Als Arzt erfreute er sich in den drei Jahren, die er in Berlin verbrachte, eines großen Patientenkreises mit vielem Zuspruch. Er betreute lt. den Krankenakten als praktischer Arzt um die 800 Familien, wobei seine Fürsorge auch durchaus der ärmeren Bevölkerung galt. Im Jahr 1831 brach in Berlin die Cholera aus, die seine Kräfte voll in Anspruch nahm. Als seine Mutter im Juni 1831 in Radeberg verstarb, war er vermutlich nicht zu den Trauerfeierlichkeiten anwesend. Es kann nur gemutmaßt werden, dass er die beschwerliche Reise nicht mehr antreten konnte.
Plötzlich und unerwartet endete am 4. August 1831 in Berlin unerwartet sein arbeitsreiches, unermüdliches Leben durch einen Schlagfluss und Entkräftung, im Alter von nur 49 Jahren.
Sein viel zu früher Tod wurde allgemein zutiefst betrauert. Er hinterließ außer seiner Witwe die Tochter Auguste Camilla (1823-1835). Seine Söhne waren bereits im frühen Kindesalter verstorben (Heinrich Curt 1826-1827, Curt Reinhold 1827-1828). Dr. Heinrich von Martius hatte sein Wirken und Forschen als Arzt und Chirurg stets auch als Verpflichtung gegenüber den Armen gesehen. Das zeigt sich immer wieder in seinen medizinischen Schriften, die darauf ausgerichtet waren, die Ursachen der Krankheiten, die auf Armut, Unwissenheit, körperliche Vernachlässigung, mangelnde Hygiene und unzumutbare Wohnverhältnisse zurückzuführen waren, aufzuzeigen. Medizinische Schriften, wie: „Wundarzneikunst in Sibirien“ (1828), „Abhandlung über Frostbeulen“ (Berlin 1831), „Abhandlung über die Krimmsche Krankheit“ (Freiberg 1819), „Abhandlung über die chinesische Geburtshilfe“ (Moskau 1812 / Freiberg 1820), „Taschenbuch zur Erhaltung der Gesundheit und Schönheit“ (Meißen 1822), „Über den Blasenausschlag“ (Berlin 1829), zeigen das sehr deutlich.
Aber sein Wirken ging weit über das eines Arztes hinaus. Er war ebenso Geschichtsforscher, wenn man außer seiner Chronik von Radeberg auch die weiteren Schriften betrachtet, z.B.: „Über Lage, Sitten und Völkerschaften Germaniens“ (Übersetzung Tacitus / 1812 Moskau), oder „Kloster Altenzelle, ein Beitrag zur Kunde der Vorzeit“ (Nossen 1821). In seinen medizinischen Abhandlungen nahm er ebenfalls immer wieder Bezug auf geschichtliche Überlieferungen und Darstellungen zu Krankheiten, die er als höchst glaubwürdige Beobachtungen in seine Erkenntnisse einbezog. Auch als Botaniker, der sich mit den Pflanzen der asiatischen Steppe beschäftigte, sind Werke vorhanden. Anonym soll er ebenfalls einige Romane und Lustspiele verfasst haben, ebenso prosaische Aufsätze und Gedichte in verschiedenen Zeitschriften.
Dr. Heinrich von Martius gehörte durchaus zu den Großen seiner Zeit, heute würde man ihn salopp als ein „Allround-Talent“ bezeichnen. Umso tragischer erscheint die Tatsache, dass seine Büchersammlung in Berlin am 1. Dezember 1831, also kurz nach seinem Tod, in einer öffentlichen Versteigerung aufgelöst wurde. Seine Witwe ging 1832 eine zweite Ehe mit dem Verleger Grimm ein, verwitwete jedoch nach nur einem Jahr erneut und zog mit Tochter Camilla († 1835) und einem aus zweiter Ehe hervorgegangenen Kind zurück zu ihrer Familie nach Bautzen.
Die Besonderheit der Familienlinien Martius ist bis heute in der immer noch aktiven Großfamilie zu sehen, die als Familienverband agiert und jetzt auch die „Papiergenealogie“ durch die Möglichkeit von DNA-Tests bestätigen lässt. Mit Versendung eines jährlichen Familienbriefes wird Kontakt untereinander gehalten, alle fünf Jahre finden gemeinsame Familientage statt.
©Renate Schönfuß-Krause
November 2019
Quellen:
Neben vielen anderen interessanten Beiträgen ist der Artikel über Gertrud Seltmann-Meentzen in erweiterter und leicht abgewandelter Form im o.g. Heft 21 veröffentlicht worden.
Feedback vom 4. Dezember 2019 von Hendrik Martius,
Nachkomme und Familienforscher:
Martius Familiengeschichte; Digitale Blätter der Familie Martius aus Asch/Egerland.
Feedback vom 9. Januar 2021 von Hendrik Martius,
Nachkomme und Familienforscher:
Martius Familiengeschichte; Digitale Blätter der Familie Martius aus Asch/Egerland, Radeberger Ast.
Siehe Online-Plattform.
Hendrik Martius hat meinen ausführlichen, oben enthaltenen Artikel zur Aufnahme in die Online-Plattform "Martius-Familiengeschichte" angepasst und dort ohne wesentliche inhaltliche Änderungen unter dem Titel
Spurensuche: Dr. Heinrich von Martius,
Vertreter einer berühmten Familien-Dynastie
veröffentlicht (PDF-Datei, 1,5 MB).