Leicht gekürzt veröffentlicht in "die Radeberger" Nr. 08 v. 24.02.2017
„Ich denke, das, was wir uns gegenseitig mitzuteilen haben, hat ohnehin kein Verfallsdatum“. (Anne Dorn)
Kein Verfallsdatum - es sind Worte aus einem ihrer letzten Briefe an mich.
Nachdenklichkeit. Was hat im Leben ein „Verfallsdatum“? Das Leben selbst. Die Schriftstellerin Anne Dorn ist nicht mehr - ihr mehr als bewegtes Leben endete am 8. Februar 2017 in Köln. Sie wurde 91 Jahre alt.
Für viele, die sie kannten und schätzten, ist ihr Tod eine Tatsache, die betroffen macht, schwer zu realisieren ist. Auch für mich ganz persönlich, weil ich ihr nun noch ein Versprechen schuldig geblieben bin. Vorbei und unwiederbringlich. Zeit ist ein kostbares Gut, da keiner weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt… Sie konnte über dieses Thema philosophieren. Ich denke dabei nur an eines ihrer Lieblingszitate aus „Wallenstein“ von Friedrich Schiller: „Des Menschen Engel ist die Zeit“.
Sie hatte trotzt ihres hohen Alters nie Zeit und noch so viel vor...
Geplant war schon längere Zeit, dass wir gemeinsam unsere Vorfahren der Linie Schlegel erforschen und ebenfalls eine Biografie über ihr Leben und Werk als Schriftstellerin veröffentlichen.
Hier, in Radeberg, in ihrer ehemaligen Heimat, wollte sie es realisiert wissen, sozusagen als ein Vermächtnis ihrer Herkunft, auch ihrer Bodenständigkeit. Denn die Wahl-Kölnerin Anne Dorn, geborene Schlegel, kam aus unserer Region. Sie erblickte in Klein-Wachau das Licht dieser Welt und beschreibt es so: „…in der Roten Burg zwischen Röder und Mühlgraben“. Hier verlebte sie ihre Kinder- und Jugendjahre, war jedoch auch in Liegau, Radeberg und Dresden zu Hause. Viele ihrer spannenden und auch skurrilen Erlebnisse aus dieser Zeit hat sie in Romanen und Erzählungen verarbeitet und festgehalten. Leider war ihr literarisches Werk bis zur Wiedervereinigung Deutschlands fast nur in den Alt-Bundesländern bekannt, weniger in Ostdeutschland.
Wenn man das Vergnügen und die Ehre hatte, mit der Schriftstellerin Anne Dorn in Kontakt zu treten, fiel einem sofort ihr wacher, kluger Geist auf, ihre Konversationsfreude, die noch durch eine außergewöhnlich jugendliche und melodische Stimme untermalt wurde - die Stimme eines jungen Mädchens, einer jungen Frau. Und innerlich jung geblieben war Anne Dorn. Ihre bewundernswerte geistige Frische und ihr Tatendrang widerspiegelten noch in diesem Alter eine Frau, die um die neunzig Lebensjahre mitten im Leben stand und etwas zu sagen hatte. Eine Schriftstellerin und Lyrikerin, die in ihren Werken prosaisch, lyrisch, ernsthaft, witzig, nachdenklich und behutsam die Wahl ihrer Ausdrucksmittel einsetzte und ihre große Lebensweisheit unaufdringlich weitergab. In einem unvergleichlichen Stil. Ihre Gedankenkomplexe fanden Eingang in ihren Romanen, Erzählungen, Gedichten, Dokumentationen, Essays und Berichten, aber auch in Hörspielen, Drehbüchern, Features für Fernsehen und Rundfunk und zahllosen Briefen. Für mehrere Spielfilme, vor allem für den WDR, erarbeitete sie Filmdrehbücher, führte selbst Regie und nahm Einfluss auf die Auswahl der Rollenbesetzung mit hervorragenden Schauspielern, so spielte u.a. auch die bekannte Schauspielerin Hannelore Hoger mehrmalig unter ihrer Regie. Stipendien und längere Aufenthalte führten Anne Dorn nach New York, Paris, Amsterdam, Budapest, Moskau und Krakau. Sie interessierte, begeisterte sich für alles, war neugierig auf Menschen und Menschliches. Es ging so weit, dass sie 1978 sogar in New York, für ein geplantes Hörfunkfeature (journalistische Darstellungsform), extra das irre Geräusch Tausender trappelnder Füße, im Ausgangsbereich des World-Trade-Centers zur Feierabendzeit um 17 Uhr, mit ihrem Aufnahmegerät festhielt, um es später in Produktionen zu verarbeiten. Das war Anne Dorn, immer auf der Suche nach Banalem oder nach Extremen. Zum Kreis ihrer Förderer und Freunde gehörten die Schriftsteller Heinrich Böll und Lew Kopelew, die Starfotografin Liselotte Strelow und die kritische Theologin Dorothee Sölle.
Bis zuletzt hat sie geschrieben, auch neue Projekte geplant. Verarbeitet in Gedichten wurden von ihr die unabwendbaren Wermutstropfen des Alters angenommen, als etwas unvermeidbar Natürliches, das man annehmen muss, oder auch einmal Weglachen darf.
Sicherlich war das die Kur, die sie in schweren Zeiten öfters in ihrem Leben übte. Lachen, wenn einem auch mal zum Weinen war. Solch einen Moment erlebte sie, als das Historische Archiv der Stadt Köln am 3. März 2009 in sich zusammenstürzte und ihren gesamten an das Archiv übergebenen Vorlass ihres Lebenswerkes unter sich begrub. Damit waren unwiederbringliche Dokumente für immer verloren, ein Tiefschlag für die Schriftstellerin, denn alle Manuskripte, alle Dokumente ihres Lebens waren vernichtet…
Geboren wurde Anne Dorn am 26. Nov.1925 als Anna Christa Schlegel in Klein-Wachau. Sie war die zweite Tochter des Johannes Max Schlegel und der Anna Hedwig, geb. Dornig. Ein weiterer Bruder wurde später geboren. Die Schlegels stammten ursprünglich aus Dresden, der Vater arbeitete im Sachsenwerk. Wegen der Krankheit der Mutter waren sie nach Klein-Wachau gezogen, in die „gute Luft“, unmittelbar an das Kurgelände bei Liegau. In der sogenannten „Roten Burg“, auf der Kurhausstraße zum Augustusbad, wuchs sie mit ihren Geschwistern auf. Sie lässt in der Beschreibung ihrer Kindheit anklingen: „(…) ich war also ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, der Stoff, aus dem ich etwas bilden und gestalten konnte, war von Anfang an mit dramatischem Geschehen durchmischt. Ein Jahrhundert der perfektionierten Gewalt. Der Scherben.“ Der geliebte Vater erfährt mit der Familie bereits Anfang der 1930-er Jahre die Arbeitslosigkeit, und alle bekommen die Härte von Entbehrungen und Not zu spüren.
Er betätigt sich in dieser Zeit als Fotograf und hält mit seiner Kamera das damalige Liegau und das Augustusbad fest, in Fotos auf Postkartenformat, die es heute noch gibt. Anne Dorn verarbeitet diese Erlebnisse später in ihren autobiografischen Erinnerungen „Geschichten aus tausendundzwei Jahren“ (1992). Sie ist die Beobachtende. Schon als Kind wertet sie die vorerst harmlos erscheinenden Veränderungen, die den aufkommenden Nationalsozialismus ankündigen: der alte Lehrer, der gegen den Lehrer in Uniform ausgetauscht wurde, die Veränderungen, die sich in den Verhaltensmustern der Erwachsenen ihrer Umgebung abzeichneten. Aber wie bei allen Kindern überwiegen ungetrübte Freuden. Der Alltag mit den Eltern und Geschwistern, der gemeinsame lange Schulweg aller Kinder von Kleinwachau über den „Weißen Müllerberg“ oder die „Schöne Höhe“, vorbei an der Wachauer Ziegelei und auf der nicht enden wollenden Landstraße bis zur Schule im fernen Dorf Wachau. Auch im Winter bei Eis und Schnee, Sturm und hohen Schneeverwehungen, wo die Abkürzung über den vereisten Ziegeleitümpel genommen wurde. Sie erfuhr in dieser Zeit, was ein „Wert“ ist - Schuhe zu besitzen, als ganz großen Wert, die man täglich freiwillig fleißig putzte, da sie ein fast unerschwingliches Gut bedeuteten.
Aber auch die Freuden der traditionellen und damals üblichen Familienspaziergänge an den Sonntagen in das Seifersdorfer Tal, vorbei an all den spannenden moosbedeckten Seltsamkeiten des Zeitalters der Empfindsamkeit, die Einkehr zu einer Fassbrause in die Marienmühle, wurden von ihr nie vergessen, ebenso wie die Erinnerung an ihre beste Freundin Hilde Kühnel und deren Bruder Werner. Vater Paul Kühnel betrieb damals die noch heute existierende Gärtnerei Kühnel, in der Anne in den Schulferien helfen durfte, um etwas Geld zu verdienen. Als sie auf das Radeberger Realgymnasium wechselte, erhielt sie ein uraltes, klappriges Fahrrad für den langen Schulweg. Das Abitur blieb ihr verwehrt, die Eltern konnten den langen Schulbesuch nicht finanzieren. Sie hatte trotzdem Glück.
Da sie schon frühzeitig interessiert an Literatur war und auch eigene Gedichte schrieb, kam sie durch Beziehungen des Vaters zu einem Volontariat im Zeitungsverlag der „Dresdner Neueste Nachrichten“ (DNN). Künstlerisch interessiert, besucht sie in dieser Dresdner Zeit nebenbei die Abendkurse der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe, wo sie im Zeichensaal ihren späteren ersten Ehemann kennenlernte. Nach Beendigung ihres Volontariats bei der DNN im Jahr 1944 musste sie das von den Nationalsozialisten eingeführte Pflichtjahr absolvieren. Dieses 1938 eingeführte Gesetz galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft. Sie nahm als Pflichtjahrmädchen eine Stelle bei einer Familie in Sankt Gilgen, im Salzkammergut in Österreich, an und arbeitete als Kindermädchen. Hier erlebte sie 1945, als 19-jährige, das Kriegsende.
Die Geschichte stellte ihre Weichen. Während die Familie Schlegel in Klein-Wachau auf einmal Teil der Sowjetischen Besatzungszone geworden war, befand sich ihre Tochter im Salzkammergut im amerikanisch besetzten Teil Österreichs. Sie ging nach Herford in Westfalen, dann nach Kleve. Verheiratet in erster Ehe mit einem Bühnenbildner, in zweiter Ehe mit einem Schauspieler, kam sie mit dem Theater in Kontakt. Später, 1969 nach zwei gescheiterten Ehen, verließ sie die Provinz und begab sich mit ihren vier Kindern nach Köln. Hier brodelte das Leben, sie wollte Schriftstellerin werden. Bereits 1967 hatte sie erste schriftstellerische Arbeiten veröffentlicht. Für den Neubeginn ihres Lebens in Köln legte sie sich als Pseudonym den Namen „Anne Dorn“ zu. Ihren Geburtsnamen Schlegel nahm sie nicht mehr an. Da sie Schriftstellerin werden wollte, erschien ihr der Anspruch zu hoch, der sich mit der Namensgleichheit mit den berühmten Literaten der Frühromantik, Wilhelm von Schlegel (1767-1845) und Friedrich von Schlegel (1772-1829), verband. Sie selbst bezeichnete diese Zeit ihres Lebens als alleinerziehende Mutter und berufstätige Frau gern als absolutes Chaos. Zwei verlassene Ehen, vier Kinder - das entsprach in der „geordneten Welt der BRD“ nicht dem gängigen Frauenbild. Als unbekannte Lyrikerin und Schriftstellerin konnte sie kein Geld verdienen, also arbeitete sie am Theater als Bühnen- und Kostümbildnerin, nahm alle nur erdenklichen Möglichkeiten wahr, um für sich und ihre Kinder einen gesicherten Unterhalt zu verdienen, durchzukommen. Nach einigen ersten Prosa-Veröffentlichungen in Anthologien wurde man auf ihren ungewöhnlichen Erzählstil aufmerksam. Erste Aufgaben folgten als Hörspiel- und Fernsehautorin und mit Aufträgen für Filmdrehbücher, aus denen sechs Filmproduktionen des WDR hervorgingen.
Anne Dorn wird gern als „Spätberufene der Literatur“ bezeichnet. Ihr erster Roman „hüben und drüben“ erschien 1990, nach dem Fall der Mauer, sofort als Fortsetzungsroman in der Dresdener Tageszeitung „Die Union“. Da war sie bereits 65 Jahre alt. Das Thema war für sie natürlich schon viel länger aktuell gewesen, denn da sie als BRD-Bürgerin regelmäßig in der damaligen DDR zu Besuch bei Freunden und der Familie war, wusste sie genau, über was sie schrieb: Teilung eines Landes über 40 Jahre, Verbarrikadierung des einen Teils hinter Beton und Stacheldraht, Trennendes in der gesamten Entwicklung durch zwei unterschiedliche Gesellschaftsordnungen, das letztendlich zu diesem, von ihr literarisch verarbeiteten Auseinanderdriften der Ansichten führte, einem zunehmenden Fremdsein, zu diesem einfach nicht mehr „miteinander Können“ der Menschen… Wer hat es nicht erlebt? Und was Hüben und was Drüben war, sah jeder von seinem Standpunkt aus.
Anne Dorn suchte mit ihren Sprachmitteln nach Standpunkten, Ausgangspunkten, Berührungspunkten. Ihrer ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens begegnet man auch in dem Roman „Siehdichum“ (2007), der sich mit ihren Nachforschungen nach dem in Polen vermissten jüngeren Bruder auseinandersetzt, der noch in den letzten Kriegstagen 1945, als 16-jähriger, zu der sogenannten „letzten Reserve“ eingezogen und sinnlos geopfert wurde.
In den 1990-er Jahren veröffentlichte Anne Dorn zunehmend Lyrik und wird nun auch hier, im Osten Deutschlands, mit ihren Arbeiten bekannter. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband „Wetterleuchten“, anlässlich ihres 90. Geburtstages den zweiten Band „Jakobsleiter“ (2015). Mehrere Besuche und Buchlesungen führten die Schriftstellerin u.a. nach Dresden, Radeberg, Liegau-Augustusbad, Wachau, Lomnitz und Seifersdorf.
Das Team der Radeberger Stadtbibliothek, unter Leitung von Frau Ohl, organisierte den Ankauf von Büchern und führte gemeinsam mit der Schriftstellerin Anne Dorn mehrmals Buchlesungen durch. Besonders stolz ist sie auf eine Signatur in "hüben und drüben" durch die Schriftstellerin: „Für die Stadtbücherei in Radeberg. In der Hoffnung, dass alle Mauern zwischen den Köpfen, Herzen und Leibern fallen! Juli 1992 Anne Dorn“.
Das war ihr eigen, diese vorbehaltlose Lebensbejahung, der Glaube an das Gute im Menschen, an seine Vernunft.
Aber es gibt in ihren Gedichten auch die leisen Töne der Vergänglichkeit, das Auseinandersetzen mit dem „Memento mori“ und dem „Wohin gehen wir?“
Anne Dorn ist gegangen - durch ihren Verlust bekommen viele Erinnerungen an sie auf einmal einen ganz besonderen Wert. So wie ihre liebevollen Widmungen in den mir geschenkten Büchern, ihr Vertrauen in mich, mit ihrer Übergabe der Kopien von Urkunden aus dem Familienstammbuch ihrer Familie, das Foto ihrer Ehrung zur Feier ihres 90. Geburtstages in der Zentralbibliothek Köln mit Navid Kermani, die CD der Rezension des WDR vom 26.November 2015 im „Büchermarkt“ des Deutschlandfunks und ihre Briefe. Wie konnte sie sich selbst auch freuen, ob über ein Foto des Grabes ihrer Eltern auf dem Radeberger Friedhof oder den Erhalt einer DVD über einen Rundgang im Seifersdorfer Tal, ihrer Heimat.
Was bleiben wird, ist ihr Werk, in dem sie uns in ihre Seele schauen ließ.
Und die Erinnerung an eine kluge, warmherzige und kämpferische Frau. Das ist tröstlich.
Sie wird mir, und vielen anderen auch, fehlen.
Renate Schönfuß-Krause
Februar 2017
Bildnachweis:
Bücher von Anne Dorn in der Stadtbibliothek "Martin Andersen Nexö" Radeberg (Stand Februar 2017):
Werkverzeichnis (Bücher):