Ein Grabstein auf dem Friedhof Radeberg erinnert an „unseren Doktor Dietze“
Er praktizierte das, was man aus keinem Lehrbuch erlernen kann –
immer zuerst Mensch zu sein und dann erst Arzt…
Es zeugt sicherlich von einer sehr großen Verehrung für einen Mann wie Dr. med. Albert Dietze, wenn auch noch fast 60 Jahre nach seinem Tod von alteingesessenen Radeberger Bürgern immer wieder der Wunsch geäußert wird, dass doch endlich noch einmal etwas über „ihren guten alten Doktor Dietze“, oder, wie er auch liebevoll bezeichnet wurde, über „Papa Dietze“ geschrieben wird, der insgesamt 59 Jahre aufopfernd und unermüdlich für die Gesunderhaltung der Bevölkerung der Stadt Radeberg und der umliegenden Dörfer tätig war. Ein Arzt, der in vielen Häusern zugleich mehrere Generationen betreute und „verarztete“ und fast zu einer Legende wurde.
Dr. Albert Dietze ist bei seinen ehemaligen Patienten unvergessen und lebt auch durch viele übermittelte Erzählungen und Episoden in deren Familien weiter. Kommt man mit ihnen ins Gespräch, fallen noch heute, in der Erinnerung an seine Bescheidenheit und seinen unermüdlichen Einsatz, Worte des Dankes und der Anerkennung, denn er war weit mehr als nur ein vorbildlicher Arzt, für den ein Leben lang der Eid des Hippokrates selbstverständliche Pflichterfüllung war. Bis ins hohe Alter von 90 Jahren ließen ihn sein ärztliches Verantwortungsbewusstsein und seine menschliche Fürsorge um das Wohl und Wehe seiner Patienten und Mitmenschen nicht zur Ruhe kommen. Seine Patienten kamen nicht nur aus Radeberg, sondern auch aus den umliegenden Gemeinden Großerkmannsdorf, Ullersdorf, Lotzdorf, Liegau und sogar aus dem weiter entfernten Seifersdorf. Wurde er zu Kranken gerufen, egal ob bei Tag oder Nacht, so war er bereit, bei jedem Wind und Wetter auch auf beschwerlichen Wegen zu Fuß an das Krankenbett zu gehen, um die dringend benötigte ärztliche Hilfe zu bringen, um menschliches Leid zu lindern. Und das bis ins hohe Alter hinein. Manch einer verdankte seiner Verlässlichkeit und Fürsorge sein Leben. Sein Sohn, Dr. med. Andreas Dietze, schilderte später rückblickend aus eigener Anschauung in einem Brief aus dem Jahr 1974, er selbst war zu dieser Zeit bereits Regierungs-Medizinaldirektor in Kiel, seine Erlebnisse als Kind und Student mit seinem Vater, wie beschwerlich der Beruf eines Arztes in den 1920er und 1930er Jahren in einer Kleinstadt wie Radeberg war. Ärzte besaßen damals zumeist noch kein Auto und mussten entweder zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Mietdroschke mit zwei Pferden davor, ihre Patienten in den Dörfern aufsuchen. Im Winter ging es über verwehtes Gelände mit dem offenen Pferdeschlitten, der im Fußraum nur mit Stroh und einem Fußsack ausgelegt war. Auf den Dörfern wurden, außer den Krankenbesuchen, dann bei Knochenbrüchen in der Wohnung des Patienten durch den Hausarzt auch Gipsverbände angelegt, handelte es sich um Zugverbände, begann der Bau der Anbringung von Gewichten und Umlenkrollen am Krankenbett...[1]
Dr. Albert Dietze war mit Leib und Seele Arzt, sein Beruf war für ihn von Anfang an zur Berufung geworden. Aber was ihn besonders auszeichnete, er war nicht nur Arzt, sondern in erster Linie „Mensch“. Seine große, von Güte getragene Menschlichkeit, die ihn zum Helfen antrieb und die ihn deshalb auch bis heute in den Herzen der Radeberger unvergesslich werden ließ, bestand in seiner uneigennützigen, tätigen Hilfe für alle, ohne Ansehen der Person, ihres Standes oder Geldbeutels. Er fühlte sich vor allem den Hilflosen, den Armen, Alten und den Kindern verpflichtet und ging oft selbst bis an seine physischen Grenzen. Mitfühlen mit der Not der Anderen und Hilfe geben, das machte ihn als Arzt zum wirklichen Menschen, das zeichnete ihn besonders aus.
Geboren wurde er am 20. August 1874 in Gröba bei Riesa als Sohn des Kaufmanns Eduard Dietze und dessen Ehefrau Therese, geb. Andreas. Er kam bereits in jungen Jahren als Gymnasiast nach Dresden auf das Neustädter Gymnasium. Nach seinem Abitur studierte er von 1894 -1899 Medizin in Greifswald und Leipzig, 1899 erlangte er seine Promotion zum Doktor der Medizin. Seine praktischen Erfahrungen für den Arztberuf erwarb er in Krankenhäusern und Landarztpraxen von Buttelstedt/Thür., Herzberg und Dresden. Mit einer Anstellung als Schiffsarzt sah er etwas von der Welt und kam bis nach Südamerika. 1905 ließ er sich in Radeberg als praktischer Arzt nieder. Er wohnte und praktizierte zuerst auf der Dresdner Straße 35.[2] Bereits zu dieser Zeit hatte er sich als junger Arzt der Samariter-Bewegung zugewandt, durch die er die Möglichkeit erkannte, seine Ideale von ärztlicher Ethik zu verwirklichen, um auch der Radeberger Arbeiterschaft uneigennützig bei den vielen in den Betrieben und Werkstätten auftretenden Unfällen schnell und kompetent helfen zu können. Mit seinen damals bereits hochgeschätzten ärztlichen Erfahrungen brachte er sich in Radeberg in die bereits bestehende Sanitätskolonne des Roten Kreuzes ein.[3]
Im Jahr 1910 ging er die Ehe mit Johanne, geb. Blumer (*1889, † 1953) ein[4], der Tochter des Radeberger Fabrikdirektors Moritz Blumer[5] und dessen Ehefrau Hedwig, geb. Naumann. Wohnung und Praxis verlegte er später in sein Haus auf der Pirnaer Straße 34.[6] 1918 wurden Tochter Gisela (später verh. Kurth) und 1921 Sohn Andreas (später Prof. Dr. med. Andreas Dietze, Neumünster)[7] geboren.
Neben seiner Tätigkeit als praktischer Arzt setzte sich Dr. Albert Dietze als Schularzt, Impfarzt und Arzt für die Mütterberatung verstärkt für die Volksgesundheit ein. Im Ersten Weltkrieg war er von 1915 bis 1918 als Stabsarzt an die vorderste Frontlinie versetzt worden, wo er unmittelbar die sinnlose Opferung der Soldaten in einem traumatisierenden, menschenfeindlichen Kriegswahnsinn erlebte. Ganz unter diesen furchtbaren Erlebnissen stehend, übernahm er ab 1921, bis zum Verbot durch die Nationalsozialisten 1933, den Aufbau, die ärztliche Schulung und Betreuung der „Arbeiter-Samariter-Kolonne“ in Radeberg. Diese Hilfs- und Volkswohlfahrts-Organisation als Teil der Arbeiterbewegung wurde ihm zur besonderen Herzenssache, setzte sie sich doch neben dem Aufbau einer Notfallrettung auch für Hauskrankenpflege, Gesundheitsfürsorge und Kinderhilfe ein. In den 1920er Jahren wurde seine Praxis bei Unglücksfällen in den umliegenden Radeberger Betrieben zunehmend zum Anlaufpunkt für erste chirurgische Versorgungen als Maßnahmen der Ersten Hilfe.[8] Seine Praxis führte er als Familienbetrieb. Seine Ehefrau war eingebunden in den Praxisalltag und in den Kellerräumen des Hauses zuständig für Laborarbeiten und Röntgenaufnahmen. Hier wurden dann von ihm auch Brüche versorgt und Gipsverbände angelegt. War das Wartezimmer überfüllt, erhielten Patienten zeitaufwendige Nachbehandlungen mit Seifenbädern u.a. auch durchaus im Flur oder der Wohnküche verabreicht. Später stand ihm seine Tochter, Frau Gisela Kurth, im täglichen Praxisbetrieb als Arzthelferin hilfreich zur Seite. Seine Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft und Volksverbundenheit sowie sein Können in vielen Bereichen brachten ihm bald den Ruf eines Arztes der Armen und des Volkes ein.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges 1945 gehörte er, gemeinsam mit dem Arzt Dr. Paul Kirchner, erneut zu den ersten, die sich unermüdlich und aufopfernd für die Krankenbetreuung der Bevölkerung, der Kriegsversehrten und -heimkehrer, der vielen Flüchtlinge und Vertriebenen einsetzte, die teilweise in Baracken-Notunterkünften unter katastrophalen hygienischen Zuständen untergebracht waren. Beide Ärzte waren bereits über 70 Jahre alt und versuchten alles, um unter schwierigsten Bedingungen den traumatisierten, ausgehungerten und unterernährten Menschen in Not und Schmerz zumindest ärztliche Hilfe zu ermöglichen, fehlende Medikamente zu organisieren und der immer wieder auftretenden Seuchengefahr mit Schutzimpfungen zu begegnen. Neben seinem mehr als ausgefüllten Praxisalltag führte Dr. med. Albert Dietze anschließend wieder seine Hausbesuche und die Mütterberatungen durch und ging zu Fuß, bis ins hohe Alter, auch in die entfernten Dörfer. Bemerkenswert war ebenfalls, dass die Tür seines Wohnhauses für Hilfesuchende immer offenstand. Auch wenn an Wochenenden und Feiertagen eine Notsituation auftrat, wurde keinem eine Hilfe verweigert. Seine besondere Fürsorge galt vor allem den Kindern. Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration wird sich sicherlich noch erinnern, an diesen gütigen alten „Herrn Doktor“, dem man als Kind regelmäßig vorgestellt wurde und dem man mit einer gewissen Ehrfurcht begegnete, wenn man ihn „artig“ mit seinen ewig schaurig kalten Händen begrüßen durfte, denn er praktizierte, der Nachkriegsnot gehorchend, selbst auch in einem wenig beheizten Praxisraum. Seine Sorge war stets spürbar, wenn er die blassen und mageren, von Blutarmut und Unterernährung gezeichneten Kindergestalten sah und den besorgten Müttern Ratschläge erteilte, denn wenn er bei seinen erforderlichen Untersuchungen von Herz und Lunge die Kinderkörper drehte und „abklopfte“, konnte er jede Rippe einzeln zählen… Keiner wusste es besser als er, welche gesundheitlichen Gefahren für Knochenwachstum und Immunsystem mit der ständigen Mangelernährung einhergingen, wenn sogar bereits die Babys und Kleinkinder kaum richtige Milch kannten und stattdessen mit der sogenannten „Zotelsuppe“ oder „Huddelsuppe“ (dünnes Wasserkartoffelgemisch in der Trink- Milchflasche) dürftig ernährt werden mussten. Da konnte auch der beste Arzt kaum helfen und kam an seine Grenzen. Es blieben ihm nur Schutzimpfungen, Verordnungen von Höhensonne und orthopädischem Turnen und die Verschreibung des von allen Kindern gehassten Lebertrans, mit dem jedoch schlimmste Mangelerscheinungen vorübergehend abgewehrt werden konnten.
Dr. med. Albert Dietze war in Radeberg fast 60 Jahre, von 1905 bis 1964, als praktischer Arzt tätig und hat bei mehreren Generationen in der Erinnerung viele Spuren hinterlassen. Bis zuletzt betreute er als Hausarzt auch seine Altersgenossen im Feierabendheim Augustusbad und war Vertrauensarzt bei der SVK.
Am 1. April 1964, kurz vor seinem 90sten Geburtstag, entschloss er sich zur Aufgabe seiner Praxis und begab sich in den längst verdienten Ruhestand, umsorgt von seiner Tochter. Seine Ehefrau war bereits 1953 verstorben.
Für seine hervorragenden Leistungen war er 1960 mit der Ehrenmedaille als „Verdienter Arzt des Volkes“ geehrt worden, der höchsten staatlichen Auszeichnung der DDR für Mediziner. Am 11. Dez. 1961 wurde er für seine verdienstvolle Tätigkeit im nichtstaatlichen Gesundheitswesen mit der Verleihung des Titels „Sanitätsrat“ gewürdigt. Am 10. Juni 1964 folgte seine besondere Ehrung durch die Stadt Radeberg, und er wurde zum Ehrenbürger ernannt. Im Rahmen einer bewegenden Feierstunde und in Anwesenheit seiner Kinder, Enkel und vieler hochrangiger geladener Gäste, überreichte ihm der Bürgermeister der Stadt Radeberg, Gunter Hauswald, die Ehrenbürgerurkunde und den Dank der Stadt Radeberg.
Am 30. November 1966, im Alter von 92 Jahren, endete das schaffensreiche Leben des Dr. med. Albert Dietze in Radeberg, der sein ganzes Leben in den Dienst der Gesundheit seiner Mitmenschen gestellt hatte und darin die Erfüllung seiner Lebensaufgabe sah. Sein Verlust wurde allgemein tief betrauert, und sein Name ist bis heute untrennbar mit der Geschichte der Stadt verbunden. Denn wenn ein Mensch als aufrichtiger Humanist und Arzt gelebt und gewirkt hat und zu einem Vorbild wurde, wie „unser“ Dr. med. Albert Dietze, dann ist er auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht vergessen…
Auch sein Grabmal ist noch auf dem Radeberger Friedhof erhalten.[9] Die Stadt Radeberg ehrte ihn 1969 nochmals mit der Umbenennung der Straße, in der er gewohnt und praktiziert hatte, in „Dr.-Albert-Dietze-Straße“. Und wie würde er sich freuen, wie stolz wäre er sicherlich, wenn er wüsste, dass er der Nestor für eine medizinische Familientradition geworden ist, denn nicht nur sein Sohn, Prof. Dr. med. Andreas Dietze († 2012) hat seine Ideale der Ethik weitergeführt, sondern auch sein Enkel, Dr. med. Stefan Dietze aus Bad Oeynhausen, setzt diese erfolgreich fort.[10]
©Renate Schönfuß-Krause
November 2022
Quellen; Nachweise
Fotos: Sammlung Schönfuß
Bericht von
REGIERUNQSMEDIZINALDIREKTOR DR. MED. ANDREAS DIETZE
FACHARZT FÜR INNERE MEDIZIN (Sohn von Dr. Albert Dietze) vom 4.9.1974:
"Noch einige Gedanken zur Situation der niedergelassenen praktischen
Ärzte in den 20er und 30er Jahren"; Neumünster:
Bericht in der Monatsschrift "Radeberger Kulturleben" Juli 1964 (Autor Georg Banda)
Der Verdiente Arzt des Volkes, Sanitätsrat Dr. med. Albert Dietze
Ehrenbürger der Stadt Radeberg
Neben vielen anderen interessanten Beiträgen ist der Artikel über Dr- Albert Dietze in leicht abgewandelter Form im o.g. Heft 21 veröffentlicht worden.