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Weihnachten 1989 in der DDR, Vorweihnachtszeit Wendezeit 1989,
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Weihnachten 1989 - Vorweihnachtszeit - W
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Weihnachten 1989 in der DDR zur Wendezeit - Vorweihnachten 1989

Vorweihnachtszeit 1989, Konsum Herbstmarkt Dresden 1989, Fluchtwelle aus der DDR, Begrüßungsgeld

Vorweihnachtszeit 1989 - Weihnachten vor der Wende 1989 in der DDR.

Konsum - Herbstmarkt Dresden Wallstraße 1989 - während der Friedlichen Revolution in Dresden, vor dem Mauerfall.

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Begriffe, die unser Leben in der DDR besonders vor Weihnachten 1989 prägten. Trotzdem waren die Tische nicht nur zu Weihnachten reich gedeckt, die Menschen hielten zusammen und Schenken machte Freude....

 

Lesen Sie unseren Weihnachtsartikel 2019!

In leicht gekürzter Form veröffentlicht in unserer Heimatzeitung

"die Radeberger" Nr. 51/2019 vom 20.12.2019


Weihnachten 1989 - ein Beiwerk inmitten großer Ereignisse

 Eine etwas andere Wehnachtsgeschichte

Dieses Jahr feiern wir mit Weihnachten ein besonderes Jubiläum – seit drei Jahrzehnten haben wir Weihnachten ohne Grenzen zwischen Ost und West. Rückblickend kann man feststellen: Weihnachten 1989 war durchaus kein Fest für Weihnachtsengel & Co. im bisherigen Verständnis. Weihnachten 1989 war nur ein Beiwerk inmitten der großen Ereignisse des Jahres mit Aufbruch eines Volkes, Revolution und Mauerfall.

Gerade dieses Jahr 2019 lädt dazu ein, sich zurückzuerinnern an die Zeit der sogenannten Friedlichen Revolution 1989 und Öffnung der Grenzbefestigungen. Dabei kommt sicherlich ganz schnell die Erkenntnis: Das Jahr 1989 war ein absolutes Ausnahmejahr für jeden ehemaligen DDR-Bürger - wir befanden uns zum Jahresende durchaus in einer Art Ausnahmezustand. Plötzlich, vollkommen unerwartet und unvorbereitet, wurde es möglich, dass sich Menschen in Ost und West, die Jahrzehnte durch eine Mauer getrennt waren, wiedersehen konnten und mit Tränen in den Augen um den Hals fielen, vielleicht sogar schon im Kreis der Familie Weihnachten feierten. Das Wir-Gefühl, eine Welle der Verbundenheit, erfasste damals alle.

Das Tempo der Ereignisse war fast unvorstellbar

Jeder erlebte das damalige Weihnachtsfest 1989 sicherlich anders, aber geprägt war es für alle, ob in Ost oder West, durch die Sicht auf Ereignisse und Erlebnisse der vorangegangenen Monate. Was hatte sich nicht alles in wenigen Wochen ereignet – da trat Weihnachten in den Hintergrund.

Weihnachten Konsum-Kaufhalle Radeberg: in den Regalen das Sortiment wie immer – aber dafür dekorative  Deckengestaltung…
Weihnachten Konsum-Kaufhalle Radeberg: in den Regalen das Sortiment wie immer – aber dafür dekorative Deckengestaltung…

Interessant war bei Befragungen von Zeitzeugen die Erkenntnis: Erinnerungen an dieses Weihnachtsfest bestehen kaum oder gar nicht mehr. Dafür sind aber auch nach 30 Jahren noch vielfach die Ereignisse an die selbsterlebten oder über die Medien verfolgten großen politischen Umwälzungen gegenwärtig, die bis dahin keiner für möglich gehalten hatte, die uns regelrecht überrollten und zutiefst bewegten: Die Montags-Demonstrationen in Dresden für mehr Freiheit, der kaum fassbare Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin, die danach zugestandene Reisefreiheit, das gewährte Begrüßungsgeld durch die Regierung der Bundesrepublik, der Besuch Helmut Kohls, der als Bundeskanzler am 19. Dezember 1989 in Dresden vor der Ruine der Frauenkirche, seine spektakuläre Rede von blühenden Landschaften und dem Ziel der Einheit der Nation hielt. Ein Bundeskanzler sprach öffentlich auf dem Gebiet der DDR – das war für viele beeindruckend und löste zumindest damals starke Emotionen aus.

All diese Ereignisse haben sich tief und nachhaltig in das Gedächtnis eingeprägt - das eigentliche Weihnachtsfest, nur wenige Wochen später, verblasste darüber. Was allen früher so wichtig erschien, wie die Festvorbereitungen mit langüberlegten und schwierig zu beschaffenden Besonderheiten auf dem Gabentisch, wurde in diesem Jahr offenbar nebensächlich. Das Fest fand statt, das steht außer Frage, aber wie? Wichtigeres beschäftigte alle und hatte Vorrang. Zu groß und zu tief hatten uns die unglaublich erscheinenden Ereignisse des radikalen Zusammenbruchs eines Gesellschaftssystems erschüttert, in dem wir seit 40 Jahren lebten, welches wie so oft in der Geschichtsschreibung, den Volkswillen nicht mehr wahrnahm oder wahrnehmen wollte, sein Volk sogar mit einer Mauer umgab, um es gegen einen Teil der Welt, äußere Einflüsse oder gar Fluchtversuche aus dem selbsternannten Himmelreich zu bewahren. Zumindest wurde das angestrebt. Ein System fiel, das sich außerdem noch vorgenommen hatte, die ganze Welt nach diesem Vorbild zu verändern. Wir wurden nun alle Zeugen, wie das, was einst angetreten war, um vielleicht anfänglich sogar wirklich die Welt zu verbessern, kläglich scheiterte.

Weihnachten Konsum-Kaufhalle Radeberg: in den Regalen das Sortiment wie immer – Viel Dekoration und wenig Ware…
Weihnachten Konsum-Kaufhalle Radeberg: in den Regalen das Sortiment wie immer – Viel Dekoration und wenig Ware…

Also kein Wunder, dass Weihnachten 1989 eine sehr untergeordnete Rolle für uns alle spielte. Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch DDR-Bürger, hatten noch DDR-Geld als Zahlungsmittel, und auch wirtschaftlich hatte sich mit den Betriebs- und Handelsstrukturen, ungeachtet der Grenzöffnung, noch nichts verändert. Der Handel hatte in seinen Kaufhallen noch das gleiche Angebot, alles wartete Anfang Dezember, wie jedes Jahr, auf das Erscheinen des in der sozialistischen Planwirtschaft vorgesehenen „Apfelsinendampfers“, nur mit dem Unterschied, dass der Verkaufsbeginn für die heißersehnten Früchte vorverlegt wurde. Die politische Situation stand auf wackligen Beinen, und man wollte die Bevölkerung nicht noch zusätzlich verärgern. Ansonsten gab es vorerst keine weiteren Zugeständnisse in der Versorgung der DDR-Bevölkerung, und wo das Warenangebot dürftig war, wurde zumindest, wie in jedem Jahr, fleißig Weihnachtsschmuck angebracht, um die erforderliche Hinstimmung zu erreichen.

Der Abgesang des Landes ging einher mit einer Fluchtwelle

Unter dem Motto: „Fliehe, wer noch fliehen kann“, hatte seit Juli / August 1989 eine verstärkte Fluchtwelle nach Ungarn eingesetzt. Nach Bekanntgabe der Grenzöffnung Ungarns nach Österreich war diese um ein Mehrfaches angestiegen. Freunde, Bekannte und Verwandte verließen in regelrechten Nacht- und Nebelaktionen das Land. Für Zurückbleibende eine schmerzliche Erfahrung. Die bisherigen Wegbegleiter waren plötzlich einfach weg, erst nach Wochen kamen erste Lebenszeichen. Die Allermeisten vertrauten sich vor ihrer Flucht keinem an. Alles musste heimlich vorbereitet werden, man konnte auch nur das Allernötigste an persönlichen Papieren und Bekleidung mitnehmen, auch ein vorzeitiges Ausräumen der Wohnung wäre bemerkt worden und hätte auf eine geplante Flucht hinweisen können. Die Wohnungen der Geflüchteten wurden bei Bekanntmachung dann auch staatlich konfisziert. Die Allermeisten nahmen also keinen Abschied, und selbst innerhalb der Familie wurde es teilweise vermieden, die Fluchtabsicht zu erklären. Eine Vorsichtsmaßnahme, um Angehörige nicht zu belasten oder um sich selbst nicht durch vorzeitige Unvorsichtigkeit und Entdeckung in Gefahr zu bringen, denn Republikflucht wurde außerdem noch mit Haftstrafen geahndet. In der damaligen Situation erschien es allen als ein Abschied für immer. Zerrissen war das Band der Familie oder engen Freundschaft, der Mauerzaun und die Zeit würden das ihrige dazutun. Das alles war belastend, auch beunruhigend, denn damals konnte noch niemand ahnen, dass es nur ein Jahr später diesen Staat DDR mit all den bisherigen Einschränkungen nicht mehr geben würde und nun jeder, der es wollte, legal ausreisen konnte, wohin er wollte, in alle Welt...

Weihnachtsengel & Co. mussten 1989 warten, es war Aufbruchsstimmung…

Das letzte Viertel des Jahres 1989 war keineswegs dazu angetan, in vorweihnachtliche Stimmung der Ruhe oder der inneren Einkehr zu verfallen. Ganz im Gegenteil, täglich stürmten neue Informationen mit sich überschlagenden Ereignissen auf uns ein: Ab Oktober begannen mit den Demonstrationen in Dresden auch Verhaftungen von Demonstranten, in vertrauten Kreisen erfolgten Mitteilungen von Übergriffen auf Festgenommene. Die Stimmung war allgemein aufgeheizt, auch zunehmend gereizt, ob zwischen Parteifunktionären der SED und ihren bisher hörigen Mitgliedern oder den Nichtparteimitgliedern an den Arbeitsplätzen, die nun auch „eine Lippe“ riskierten. Da ein großer Teil der Bevölkerung der DDR immer sehr politisch und auch kritisch eingestellt gewesen war, hatte man durchaus auch immer verfolgt, was in der Welt vor sich ging, und vor allem auch hinter dem „hohen Mauerzaun“ in der Bundesrepublik, ganz im Gegensatz zu den dort lebenden Brüdern und Schwestern, die zumeist fast nichts über das Leben in der DDR wussten, teilweise bis heute nicht. Unsere Einstellung hing natürlich mit der erlebten Situation der Ost-West-Teilung zusammen, der Empfindung ungerechter Lebenschancen innerhalb des geteilten Deutschlands.

Im Oktober 1989 setzte mit den zunehmenden Demonstrationen in Dresden eine neue Welle ein. Auf einmal entsannen sich viele SED-Parteimitglieder, bisher durch ihre Mitgliedschaft zumeist übereifrig auf das Wohl ihrer Karriere bedacht, dass sie „schon immer dagegen waren“. Das sinkende Schiff verlor seine Passagiere. Parteibücher wurden als eine Art Heldentat zurückgegeben oder gleich im Gully entsorgt – unter dem Motto: „Wir waren noch nie angepasst, man hat uns gezwungen und wir mussten“. Keiner „musste“ natürlich, sondern sie „wollten“, viele der bequemen Karriere halber. Wer Rückgrat besessen hatte, konnte durchaus „Nein“ sagen und war deshalb auch nicht verfolgt worden… Nur wenig später sollten wir sie fast alle wiederfinden, mit neuen Parteidokumenten in alten Seilschaften, startbereit, um wiederum höhere Ebenen anzustreben oder bereits einzunehmen. Die ganz unverfrorenen hatten es sich sogar nach der Wiedervereinigung zu eigen gemacht, beim Wechsel ihrer Chefs jedes Mal auch dessen Parteizugehörigkeit anzunehmen…

Weitere beunruhigende Ereignisse folgten. Die Botschaftsflüchtlinge in Prag erhielten die Ausreisegenehmigung für den 1. Oktober und 4. Oktober 1989. Für sie wurden Sonderzüge von Prag in die Bundesrepublik bereitgestellt. Durch völkerrechtliche Abkommen durften die Züge mit den ausreisenden DDR-Bürgern nur über das Territorium der DDR in die Bundesrepublik fahren. Ein absolutes Wahnsinnsunternehmen. Ein kurzer Aufenthalt dieser Züge auf dem Dresdner Hauptbahnhof war eingeplant, und damit war eigentlich voraussehbar, dass es wiederum zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Hunderten von wartenden, ebenfalls noch Ausreisewilligen kommen musste, die auf die Züge aufspringen wollten. Selbst der Bischof von Dresden-Meißen, Joachim Reinelt, versuchte, Schlimmstes auf dem Hauptbahnhof durch seine Anwesenheit zu verhindern (siehe dazu den Beitrag auf dieser Webseite).

Am 3. Oktober erfolgte die Schließung der letzten offenen Grenzübergänge zur ČSSR – damit war der Käfig für das aufmüpfige Sachsen-Volk zu. Weitere Demonstrationen und Kundgebungen in Dresden, Leipzig und Berlin folgten. Nun ging es Schlag auf Schlag, die Ereignisse überschlugen sich förmlich: Sturz des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Berlin am 18. Oktober, Wahl des Dresdners Hans Modrow zum neuen Ministerpräsidenten am 15. November, am 5. Dezember Besetzung der gefürchteten Zentrale der Staatssicherheit in Dresden durch ein Bürgerkomitee. Eine aufregende Zeit. Die bisherige Welt, wenn auch eine kleine und insgesamt überschaubare, brach für DDR-Bürger plötzlich in nur wenigen Monaten zusammen. Das hätte sich fast keiner der „gelernten DDR-Bürger“, wie wir uns gern zu verschiedensten Anlässen selbstironisch betitelten, auch nur im Entferntesten vorstellen können...

Die Karawane zieht gen Westen - Begrüßung mit Begrüßungsgeld

Als nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 und der verunsicherten Bekanntgabe der Reisefreiheit, noch zusätzlich durch die Regierung der BRD die Gewährung des sogenannten „Begrüßungsgeldes“ für jeden DDR-Bürger bekanntgegeben wurde, war das in der Vorweihnachtszeit ein einschneidendes Erlebnis. Jedem DDR-Bürger wurden 100 DM zugesichert, die er als Begrüßung in Auszahlungsstellen der Bundesrepublik in Empfang nehmen konnte. Eine einmalige, natürlich unvorstellbar großzügige Geste.

So sah er aus, der begehrte Schein (Serie 3);  nur 16 x 8 cm groß - und doch so wertvoll!
So sah er aus, der begehrte Schein (Serie 3); nur 16 x 8 cm groß - und doch so wertvoll!

Nun reiste ein ganzes Land, ähnlich einer nicht aufhören wollenden Karawane, mit Kind und Kegel bis Ende Dezember 1989 an die Auszahlungsstellen Westberlins oder des Bundesgebietes, um das Geld in Empfang zu nehmen. Die Wege zum Begrüßungsgeld waren beschwerlich, ob auf den vollgestopften Autobahnen oder in den hoffnungslos überladenen Zügen mit dicht an dicht gedrängten Menschenmassen, wo selbst noch Säuglinge durch die Zugfenster gereicht wurden, um ja keine einzige DM einzubüßen. Dieses „Westgeld“ besaß damals in der DDR einen heute nicht mehr vorstellbaren Wert. Da zu dem damaligen Zeitpunkt noch keiner auch nur im Entferntesten etwas von einer „Wirtschafts- und Währungsunion“ (1.7.1990) oder gar Wiedervereinigung Deutschlands (3.10.1990) ahnen konnte, oder das überhaupt für möglich hielt, wurde dieses einmalige Geschenk der BRD zumeist wie ein Augapfel gehütet. Oder aber auch gleich als erste Tat im nächsten glitzernden Großmarkt nach dem Empfang ausgegeben, denn die aufgestauten Wünsche waren vielfach. Gleich in Nähe der Banken und Sparkassen hatten sich geschäftstüchtige Händler positioniert, damit das an die Ossis verschenkte Westgeld nicht allzu weit zurückreisen musste. Manch einer dieser Händler machte in diesen Wochen das Geschäft seines Lebens, denn für Ostdeutsche war es ein überwältigendes Gefühl, mit diesem empfangenen DM-Schatz im „Wunderland Westen“ sich nun langersehnte Wünsche erfüllen zu können. Unter dem Weihnachtsbaum fand sich dann vielleicht die erste echte Jeans, feiner Krönungskaffee, duftendes Badeshampoo u.v.a.m. Aber in diese Mischung der Gefühle von Freude, Dankbarkeit und Neugier auf Kommendes mischten sich natürlich auch, besonders in diesen Weihnachtstagen und dem Jahreswechsel 1989/90, die Sorgen um die weitere Zukunft, die sich bald als sehr berechtigt herausstellen sollten. Wie würde es weitergehen in diesem, unserem Land, wie würde sich die DDR weiterentwickeln, oder würden wir vielleicht auch einmal „Wessis“ und für unsere tüchtige Arbeit dann Westgeld erhalten? Hoffnungen, Träume - ein spannender Abschnitt Geschichte in unserem Leben, dessen Wirklichkeit ein Jahr später anders aussehen sollte und bald auch Ernüchterung mit sich brachte.

1989 - Es war das letzte Weihnachten in der DDR, und ganz Deutschland feierte es bereits grenzenlos – ohne Teilung, mit offenen Grenzzäunen und Mauern.

 

2019 - Eine Frage, die heute bereits wieder bedenklich stimmt: Was ist nach 30 Jahren von dieser einstmaligen Euphorie übriggeblieben?

 

Zumindest sollten wir das Erlebte nicht ganz vergessen, auch wenn sich Bilder bereits wieder gleichen!

 

Denn nichts ist selbstverständlich, und wie schnell sich eine Welt verändern kann, in der nichts mehr von Dauer ist, das ist allgegenwärtig. Vielleicht helfen Erinnerungen, trotz aller durchaus berechtigter Unzufriedenheiten, das diesjährige Weihnachtsfest doch etwas zufrieden und auch dankbar zu erleben.

 

Frohe Weihnachten und ein Neues Jahr 2020 in Frieden wünscht allen Lesern

 

Renate Schönfuß-Krause

 


Und noch als Nachtrag einige kleine persönliche Episoden am Rande des großen Weltgeschehens:

 

Sicherlich ging es allen Ostdeutschen so - diese Zeit war verbunden mit vielen kleinen und großen Begebenheiten am Rande dieser Ereignisse, die teilweise auch durchaus kurios sein konnten.

 

Woran erkannte man 1989 einen Ossi in Westberlin?

Wir gehörten zu denjenigen, die den Empfang des Begrüßungsgeldes hinauszögerten, auch etwas peinlich fanden. Almosen empfangen – nein, absolut nicht unsere Art. Die Berichte nach dem Mauerfall lösten ebenfalls Kopfschütteln aus. Eine grausige Vorstellung, womöglich mitleidig Bananen oder Schokolade durch das Autofenster gereicht zu bekommen, nur weil wir aus einer bestimmten Himmelsrichtung kamen. Machte man das nicht im Zoo mit einer bestimmten Tierart der Familie der Primaten? Peinlich, peinlich - was dachte man eigentlich über uns? Wie sah man uns? Und hatte denn gar keiner mehr Stolz?

Anfang Dezember wurden meine Eltern unruhig. Mutti stellte eines Tages, in verdächtigem Hochdeutsch, spitz die Frage: „Na sagt mal Kinder, wollen wir uns denn nicht endlich auch mal das Geld abholen? Die waren doch alle schon drüben.“ Na gut, gebrauchen konnten wir es auch, und da es alle taten… entschlossen wir uns auch, diese einmaligen 100 DM abzuholen. In der Zwischenzeit war bekannt geworden, dass manch einer auch die Unverfrorenheit besessen hatte, das ganze Chaos anfänglicher Nichtregistrierungen auszunutzen, um mehrmalig das Geld abzufassen… Eine sehr schäbige Tat und kein guter Ruf für unser Land.

Kartoffel-Verkauf in den 1970er Jahren in Radeberg
Kartoffel-Verkauf in den 1970er Jahren in Radeberg

Am 6. Dezember 1989, dem Nikolaustag, war es soweit, wir begaben uns in unserem Dacia zu viert auf große Fahrt von Sachsen nach Berlin. Ein Erlebnis total. Die Autobahnfahrt verlief teilweise im Schritttempo. Dichter Benzinnebel über der Autobahn. Von Dresden bis Berlin waren die damaligen zwei Spuren rappelvoll. Mal fuhr die linke Spur, dann die rechte, und in diesem Kreislauf tuckerten alle hoffnungsfroh der Hauptstadt entgegen. Wenn eine Spur stand, tauchten in der anderen wieder die gleichen Gesichter auf - man kannte sich bereits und nickte sich freundlich und verschwörerisch zu – der gleiche Weg, das gleiche Ziel, so etwas verbrüdert. Die laut tuckernden Trabis, dicken Benzinnebel ausstoßend, waren hoffnungslos vollgestopft mit Menschen jeglichen Alters. Alles wurde familienweise in dem Kleinwagen nach Berlin geschleppt, um das Geld pro Kopf in Empfang zu nehmen, vom Säugling bis zum Urgroßvater mit Krücken. In Berlin nach x-Stunden Fahrt angekommen, ging es weiter. Ebenso vollgestopfte S-Bahnen lösten nun die Autobahnfahrt ab, allgemeine Hektik und Unsicherheit beim ersten Durchgang durch die Grenzanlage Bahnhof Friedrichstraße. Wie oft hatte ich als Studentin in Berlin beim Ausstieg „Endstation Friedrichstraße“ diesen Tunnelgang gesehen, in dem zumeist weißhaarige Menschen geheimnisvoll verschwanden oder auftauchten. Nun ging ich selbst erstmalig diesen Weg, welch ein Gefühl… Die S-Bahn brachte uns in den Norden Westberlins, wir hatten uns verfahren, aber egal. Bereits vor der ersten anvisierten Sparkasse wurden wir durch den Ruf einer Gruppe von Landsleuten gestoppt: „Die haben kein Geld mehr, es ist alle“. Eine Dresdner Bank in unmittelbarer Nähe „hatte noch“, wir hatten Glück. Der Vorgang war unkompliziert, ein Schriftstück ausfüllen, den Ausweis vorlegen, und jeder war irrsinnig reich. Auch etwas beschämt, hatten wir doch dafür nichts geleistet. Ich werde nie die unfreundlich-taxierenden Blicke vergessen, die einige „echte“ Bankkundinnen auf uns warfen und die sicherlich dachten: „Jetzt plündern uns diese mit Pelzen und Ledermänteln aufgemotzten Ostdeutschen aus, denn arm sehen die nicht gerade aus“. Genauso, wie wir das jetzt bei den Asylbewerbern teilweise auch sagen.

Wir hatten uns vorgenommen, das wertvolle Geld für keinen Schnickschnack auszugeben. Beim Verlassen der Bank sahen wir jedoch einen noch nie im Leben gesehenen, herrlichen Obststand aufgebaut. Unglaublich, es gab einfach alles, auch total unbekannte, nie gesehene Früchte. Und es gab Weintrauben, mitten im Dezember, kurz vor Weihnachten! Wir konnten es nicht fassen, hatten wir doch fast das ganze Jahr noch keine zu Gesicht bekommen. Zwei Westberliner ältere Damen inspizierten den Stand bereits ausgiebig vor uns, bis die eine endlich, nach empfundenen ewig langen Zögerlichkeiten, dem Händler vornehm ein „Bitte nur eine ganz kleine Traube“ hinhauchte. Unvorstellbar für unser Empfinden, wenn es so etwas im Winter schon mal gab, musste man doch zugreifen… Die Damen waren bereits im Gehen begriffen, als ich mein Verlangen forsch vortrug: „Bitte ein Kilo Weintrauben“. Ich sah es aus den Augenwinkeln, und mir wurde augenblicklich total heiß. Schlagartig blieben beide stehen, sie drehten sich zu uns um, musterten uns ungeniert von oben nach unten und wieder zurück, und ich wusste, spätestens jetzt waren wir mit unserem Kilo-Wunsch als Ostdeutsche enttarnt. Ihre Gedanken konnte man vom Gesicht ablesen „So sehen Ostdeutsche aus? Typisch, die kommen zu uns rüber und verfuttern unser schwer erarbeitetes Geld in Größenordnungen, was wir nie tun würden…“ Irgendwo hatten sie natürlich Recht, aber sie konnten sich sicherlich nicht vorstellen, dass unser Obst- und Gemüseladen außer einer Sorte Äpfel, einer Kiste ungewaschener Möhren vom Acker und Rotkraut nichts aufwies. Wer kann sich das auch vorstellen, wie hart dauerhafter Mangel sein kann, wenn der eigene Tisch immer voll gedeckt und mit allen nur erdenklichen Köstlichkeiten der Welt seit Jahrzehnten verfügbar war und ist?

 

Die große Kurve auf dem Weg ins große Glück der unbegrenzten Freiheit? 

Als Ungarn sich, auf Grund des anhaltenden Flüchtlingsstroms der DDR-Bürger, ab 11. September 1989 dazu gezwungen sah, seine Grenzen nach Österreich hin zu öffnen, setzte ein regelrechter Flucht-Boom der Ostdeutschen ein.

Die Baukahre, „unsere Kurve“ (li. oben), eine Klemmstelle auf dem Weg über Zinnwald bis nach Ungarn…
Die Baukahre, „unsere Kurve“ (li. oben), eine Klemmstelle auf dem Weg über Zinnwald bis nach Ungarn…

Wir hatten damals, kurz vor diesen Ereignissen, ein Haus im Osterzgebirge, in Waldbärenburg an der Bundesstraße 170 (frühere F 170, dann B 170) erworben. Eine fast-Ruine, die keiner bisher haben wollte, nur wenige Kilometer von der Grenze zur damaligen ČSSR entfernt. Wie das zu DDR- Zeiten üblich war, musste man so ziemlich alles alleine stemmen, und wir waren jede freie Minute mit mühseligen Handwerkerarbeiten aller Art beschäftigt. Das Haus lag einsam mitten im Wald, an einer scharfen Kurve der beginnenden Serpentinenstraße ins Gebirge, genannt die Baukahre, und wir hatten es „Unser Kanada der DDR“ getauft. Liebe auf den ersten Blick für Naturfreunde wie uns, sogar ein Bachlauf war dabei.

Mit unserem gefassten Entschluss, diese fast-Ruine mitten im Wald und fern der Zivilisation zu erwerben und auszubauen, war natürlich auch eine gewisse Flucht und ein „Aussteigen“ verbunden gewesen – auch wir hatten damals von vielem die Nase gründlich voll, wir wollten weg von vielen Zwängen und Einschränkungen, auch einer aussichtslosen Wohnungssituation, wo einem Ehepaar ohne Kinder durch die Wohnraumzuweisungsbehörde nur eine kleine Zweiraumwohnung von 45 Quadratmetern zugestanden wurde… Ohne Bad, ohne Arbeitszimmer – heute unvorstellbare Zustände. Nun konnten wir einen Neuanfang beginnen, großzügig planen, Ideen umsetzen, und trotz vieler Arbeit waren wir zukunftsfroh. An eine Flucht oder Ausreise dachten wir nie, zu eng war auch das Verhältnis zu den Eltern. Unmittelbar an unserem Grundstück vorbei führte die B 170, auf der man über das Nadelöhr des streng kontrollierten Grenzübergangs in Zinnwald in die damalige ČSSR oder nach Ungarn reisen konnte. Vor allem Urlauber aus dem Großraum Dresden nutzten diese Bundesstraße, die als Teil der Europastraße 55 in direkter Verbindung bis nach Griechenland führte. Um mit dem PKW weiter direkt nach Ungarn zu fahren, musste man in Prag nur auf die E 65 abbiegen. Alles unkompliziert.

Als die große Fluchtwelle einsetzte, konnten wir diese neue Situation hautnah miterleben. Die Straße, als damals noch einziger Zugang zur Grenze, ob für den internationalen Transport-Fernverkehr mit Unmengen illuminierter Tracks oder für PKWs, erinnerte an einen Highway. Obwohl ununterbrochen Tag und Nacht der Verkehr rollte, war diese Straße ein Erlebnis mitten im Wald. Aber was wir nun nach der Grenzöffnung in Ungarn erlebten, übertraf alles Bisherige. Die Autoschlangen nahmen kein Ende mehr. Kamen sie aus irgendwelchen Gründen zum Stillstand, da oft die Grenzübergänge vorübergehend geschlossen wurden, bildeten sich Rückstaus in Richtung Dresden. Alles fuhr an unserem Haus vorbei, und natürlich war es nicht schwer zu erahnen, dass die Wenigsten zurückkommen würden, da sie nicht Urlaub in der ČSSR oder Ungarn machen, sondern über Ungarn und Österreich in die BRD fliehen wollten. Es war beängstigend. „Unsere Kurve im Kanada der DDR“, wie wir sie liebevoll nannten, war die erste Spitzkehre nach einer bisher überwiegend problemlosen Strecke von Dresden aus auf den Erzgebirgs-Kamm. Die Kurve hatte es in sich - spätestens nach dieser scharfen Drehung des Autos schlug sie bei vielen auf den Magen. Die einzige Möglichkeit zum Anhalten nach der Kurve, auf dieser stark befahrenen Piste in Richtung Grenze, lag in einer Einbuchtung vor unserem einsamen Hoftor. Ein Auto hinter dem anderen schob sich den Berg hinauf, offensichtlich dem fernen Ziel und vermeintlichen Glück entgegen. Wir standen manches Mal nur kopfschüttelnd, denn was erhofften sich diese Flüchtenden eigentlich? Jedes angebliche Schlaraffenland hatte doch auch seine Kehrseite? Wir hatten ganz andere Sorgen: Woher bekommen wir Zement, Dachziegel, neue Fenster, einen Handwerker für dies und dass – also sehr bodenständige Themen. Die Ausreise-Konvois fuhren Tag und Nacht dem Grenzübergang Zinnwald entgegen, wir hatten durchaus die Befürchtung, langsam musste dieses Land leer werden und wir würden die letzten sein, die übrig blieben…

Es war nicht ungewöhnlich, dass öfters ein Auto in Not nach unserer Kurve anhielt, denn ein Magen musste für diese Drehung schon sehr stabil sein. Als mein Mann gerade einmal wieder unmittelbar am Eingangstor arbeitete, hielt plötzlich auch ein vollbepackter Trabi. Eine junge, überhektische Familie mit mehreren Kindern, denen übel geworden war, quälte sich aus dem überladenen Gefährt. Hilfsbereit erhielten sie eine Erfrischung, aber eine Unterhaltung kam nicht auf. Als mein Mann die Frage nach dem „Wohin“ stellte, kam die stotternde Antwort „in Urlaub nach Ungarn“. „Na“, sagte mein Mann scherzhaft, „vergesst mal nicht das Wiederkommen“. Darauf erfolgte keine Antwort, sondern nur eiliges Abfahren, was sicherlich auch einer Antwort gleichkam…

 

Herbstmarkt Dresden 1989 - Der weinende Künstler auf dem Solidaritätsbasar sang nie wieder „Wir sind die junge Garde des Proletariats“…

Eine schöne Tradition in Dresden war der Herbstmarkt der Konsumgenossenschaften des Bezirks Dresden, der immer vom 3. bis 7. Oktober stattfand, anlässlich des Staatsfeiertages der DDR. Gestaltet wurde er unmittelbar an der Wallstraße, im Zentrum der Stadt.

Konsum Herbstmarkt Wallstraße Dresden 1989
Konsum Herbstmarkt Wallstraße Dresden 1989

Ein beliebter Einkaufstreff, gab es doch auf solchen Märkten für die Bevölkerung mal etwas Besonderes zu kaufen: saure Gurken, Bananen, Weintrauben – alles das, was sonst zumeist „Bückware/ Mangelware“ war. Im Jahr 1989 wurde anlässlich des Jubiläums „40. Jahrestag der DDR“ ein großer Solidaritätsbasar auf dem Herbstmarkt eingerichtet, der von Lehrlingen (Auszubildenden) gestaltet und betreut wurde. Sie traten mit Blauhemd als FDJler in Erscheinung und verkauften spezielle Artikel, deren Erlös der Solidaritäts-Spendenaktion zugeführt werden sollte. Außerdem wurden in diesem Bereich auf einer kleinen Bühne unterhaltsame kleine Veranstaltungen durchgeführt. Eine Aktion im Herbst 1989 bestand in einem geplanten Auftritt eines Künstlers, ein bekannter Dresdner Liedermacher, der für den 6. Oktober dazu verpflichtet worden war, die geplante Spendenaktion für die Solidarität musikalisch durch Gesangseinlagen mit seiner Gitarre und der Darbietung von Arbeiter- und Kampfliedern zu untermalen.

Der durch die damals bestehende Konzert- und Gastspieldirektion vertragsgebundene Künstler erschien zwar, aber es kam zu keinen Gesangsdarbietungen, denn in Dresden begannen gleichzeitig am Vormittag plötzlich Protestveranstaltungen und Demos auf dem nahen Altmarkt. Die Polizeiautos hatten Großeinsatz. Mit Sirenengeheul rasten sie ununterbrochen aufgeregt durch die Straßen, Sprechchöre der Demonstranten waren hörbar, keiner wusste, was da momentan vor sich ging. Ein Auftritt mit kommunistischen Kampfliedern wurde zunehmend riskanter, denn am Hauptbahnhof waren schon Tage vorher Steine geflogen, wer wusste schon, wie aufgebrachte Demonstranten womöglich auf rote Gesänge reagieren würden? Was tun?

Konsum Herbstmarkt, Blick Wallstraße Dresden
Konsum Herbstmarkt, Blick Wallstraße Dresden

Die Aufregung war groß. Blauhemden mit dem FDJ-Emblem wurden schnell gegen Privatkleidung gewechselt. Und plötzlich war auch noch der Künstler spurlos verschwunden. Nach ratlosem Suchen wurde er im hintersten Winkel des Verkaufsstandes entdeckt, der Empfindsame weinte und zitterte vor Angst am ganzen Körper. Er traute sich nicht, in dieser Situation des Aufruhrs in Dresden seine Kampflieder zu Themen des Sozialismus zu singen. Der Vorstandsvorsitzende der Konsumgenossenschaft, als Chef der Veranstaltung, kam schließlich mit dem Künstler überein, ihm das nicht unerhebliche Honorar im Voraus auch ohne erbrachte Leistung bar auszuzahlen unter der Maßgabe: „Das alles holen wir mit einer Veranstaltung zu einem späteren Zeitpunkt nach“. Nicht ahnend, dass es kein Später mehr geben würde und die Zeit der sozialistischen Kampflieder mit „Wir sind die Junge Garde des Proletariats“ vorerst endgültig vorbei sein würde...

 

Übrigens - das rote Künstlerchen hatte nur wenige Monate später eine wunderbare Metamorphose in einen echten Wessi durchlebt und war kaum wiederzuerkennen.

 

Das moderne Einkaufszentrum Wallstraße, anlässlich Herbstmarkt 1989 mit Hinstimmung auf 40 Jahre DDR, auf Solidarität und Friedensbewegung
Das moderne Einkaufszentrum Wallstraße, anlässlich Herbstmarkt 1989 mit Hinstimmung auf 40 Jahre DDR, auf Solidarität und Friedensbewegung

 

©Renate Schönfuß-Krause

 

Dezember 2019

 

 

Fotos:  Archiv Schönfuß