Die Welt ist ungerecht - oder der Irrtum des Wilhelm von Kügelgen

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"Wilhelm von Kügelgen verbrachte hier Tage seiner Kindheit" - so steht es auf der Gedenktafel am Hause Lotzdorfer Str. 48. Aber ist das alles? Auch Vater Gerhard von Kügelgen wohnte während seiner Kuren im Augustusbad mehrmals längere Zeit in Lotzdorf.
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Veröffentlicht in "die Radeberger"   Nr. 27  v. 8.7.2016,                                   


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Die Welt ist ungerecht - oder

der Irrtum des Wilhelm von Kügelgen

Wer kennt nicht den Satz „Die Welt ist ungerecht“. Die Welt kann es selbstverständlich nicht sein, aber die Menschen sind ungerecht. Auch die Menschen des Ortes Lotzdorf, als kleines Teilchen dieser großen Welt, scheinen da keine Ausnahme zu bilden. Lotzdorf ist eben auch ungerecht. Denn wenn man an dem Haus Lotzdorfer Straße Nr. 48 die Ehrentafel neben der Haustür studiert, kann man nur zu dieser Schlussfolgerung gelangen. Sie beinhaltet die Aussage:

 

Wilhelm von Kügelgen 1802-1867 verbrachte hier Tage seiner Kindheit“.

 

Es lohnt sich, darüber näher nachzudenken. Vorausgesetzt wird durch den Text auf der Tafel, dass jeder weiß, wer dieser Wilhelm von Kügelgen überhaupt war. Daraus resultiert der nächste Gedankengang, was er Bedeutsames vollbracht haben könnte, dass man ihm, in Erinnerung verbrachter Tage seiner Kindheit in Lotzdorf, solch eine Ehre zuteilwerden ließ? Was hatte er Außergewöhnliches geleistet? Und um welchen Lebensabschnitt seiner Kindheit handelt es sich überhaupt? Fragen über Fragen.

Denn die Ehrung an dem Haus Lotzdorfer Str. Nr. 48 wurde seltsamerweise nur ihm, Wilhelm von Kügelgen (1802 St. Petersburg - 1867 Ballenstedt), zuteil und nicht seinem um ein Vielfaches berühmteren und erfolgreicheren Vater Gerhard von Kügelgen (1772 Bacharach - 1820 Dresden).

 

Gerhard von Kügelgen hatte sich schon zu Lebzeiten einen unsterblichen Ruf als einer der gefragtesten Porträt- und Historienmaler erworben. Er lebte bis 1805 mit seiner Familie in St. Petersburg am Zarenhof und porträtierte, außer Zar Paul I. mit der gesamten Zarenfamilie, alles, was am Zarenhof Rang und Namen hatte. Mit einem ansehnlichen Vermögen zurückgekehrt nach Deutschland und Dresden, verkehrte er mit Goethe in Weimar und porträtierte nicht nur ihn, sondern auch Herder, Wieland, postum Schiller und die berühmtesten Größen seiner Zeit. Er war Mitglied der Köngigl. Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, der Kais. Russ. Akademie d. Künste zu St. Petersburg, der Königl. Sächs. Akademie d. Künste zu Dresden und außerordentlicher Professor und Lehrer in Dresden - also eine absolut hochrangige und anerkannte Kapazität.

Sein ältester Sohn Wilhelm von Kügelgen, später ebenfalls Porträtist, Hofmaler und Kammerherr am Herzogl. Hof Anhalt-Bernburg, erreichte nie das Format seines Vaters. Nach dem gewaltsamen Tod des Vaters 1820, der durch die Hand eines Meuchelmörders in Dresden umkam, litt Wilhelm ein Leben lang an Depressionen.

Zugegeben, die Dorfobrigkeit Lotzdorfs meinte es gut, als sie ihm die Ehrung einer Gedenktafel angedeihen ließ. Hatte er doch in seiner Autobiografie „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ sich und dem Ort Lotzdorf auf einigen Buchseiten ein kleines Denkmal gesetzt. Er erinnert sich in diesem Werk der Abenteuerfahrt, die er 1808 in Begleitung der Mutter mit der Postkutsche aus der Residenzstadt Dresden durch die Dresdner Heide über unwegsames Gelände nach Lotzdorf unternahm. Hier erlebt er mit den Augen eines 6-jährigen Knaben die Dorfidylle, den gemeinsamen Aufenthalt mit der Mutter, den Geschwistern und einer befreundeten Familie. Seiner kränklichen Mutter Helene Marie, geb. von Manteuffel, als einer Dame der besseren Gesellschaft, war durch ihren Arzt der Gebrauch der Radeberger Brunnenkur empfohlen worden, deren Quelle viel Eisenocker enthielt und der man wahre Wunder nachsagte. In Lotzdorf wohnte man preiswert zur Miete, und zum Kuren ging man in das sogenannte Radeberger Bad, den Augustusbrunnen im nahen Tannengrund bei Liegau. Für die Bewohner von Lotzdorf hatte sich offensichtlich mit der Entwicklung des Kurbetriebes eine neue Erwerbsquelle erschlossen, denn wer einige Zimmer in seinem Haus entbehren konnte, vermietete diese an Kurgäste. So waren die Kügelgens bei Maurer Großmann in Quartier, die mit ihnen befreundete Familie bei dem Leineweber Ulbricht. So weit, so gut. Der Vater Gerhard von Kügelgen wird in den Jugenderinnerungen seines Sohnes in dem Lotzdorfer Kapitel nur insofern erwähnt, dass er mit Freunden zu Besuch nach Lotzdorf kam. Aber hier irrte Wilhelm von Kügelgen. Halten wir es ihm zugute, er war damals gerade ein Knirps von 6 Jahren und bis zu jener Zeit, in der er seine Autobiographie in vorgerücktem Alter zu schreiben begann, vergingen viele Jahrzehnte. Entgegen seiner Darstellung hielt sich die gesamte Familie die Sommermonate in Lotzdorf auf. Auch der berühmte Vater. Gerhard von Kügelgen war schon ab dem Jahr 1808 selbst Kurgast im Radeberger Bade und wohnte mit seiner Frau und den Kindern Wilhelm (*1802), Gerhard (*1806) und Adelheid (*1808) in Lotzdorf. Denn bei meinen Recherchen wurde ein interessanter Briefwechsel zwischen ihm und seinem Zwillingsbruder Karl von Kügelgen (1772 Bacharach - 1832 Reval/Tallinn) gefunden, der als Landschaftsmaler in St. Petersburg und Riga/Lettland lebte. Gerhard von Kügelgen schrieb an ihn u.a.:

Lotzdorf, den 8.Juli 1808

 „Seit drei Tagen wohne ich hier auf einem Dorfe, zwei Meilen von Dresden und eine Viertelstunde Wegs von dem Bade Radeberg, wo ich täglich hinsteige, um meine schmuzig gewordne Gesundheit rein zu waschen. Essen, trinken, spazieren gehen und schlafen, das ist nun mein Hauptgeschäft, und ich hoffe, daß das Eisenwasser mich mit diesem edlen Waffenmetall dermaßen incrustiren werde, daß ich meiner kommenden Winterarbeit einen tüchtigen, gepanzerten Kerl werde entgegenstellen können“.

Weitere Kuraufenthalte in Lotzdorf, „einem Dorf bei Radeberg, drei Stunden von Dresden, wo die Familie Kügelgen den Sommer über sich aufhielt“, folgten und sind in Briefen vom 15. Juli 1810, 28. Mai 1812 und Sommer 1816 dokumentiert. Gerhard von Kügelgen teilte seinem Bruder mit: „Die Landluft bekömmt uns Allen sehr wohl, und wir freuen uns des Lebens...“.

Der „Vergesslichkeit“ seines Sohnes Wilhelm ist es sicherlich zuzuschreiben, dass die Gemeindevorsteher Lotzdorfs nicht ihm, dem berühmten und erfolgreichen Maler Gerhard von Kügelgen, eine Gedenktafel widmeten, sondern kurioserweise nur seinem Sohn Wilhelm, der damals als Kind in Lotzdorf mit den Eltern weilte und als alter Mann diese seine Erinnerungen in seinem Buch festhielt. Es kann nur vermutet werden, dass die Persönlichkeit des Gerhard von Kügelgen, sein Rang als berühmter Maler, ebenso wie seine hohe gesellschaftliche Stellung, in Lotzdorf in der Zeit seiner Kuraufenthalte und auch späterhin im Ort nicht bekannt waren. Unbemerkt und unbekannt blieben auch eine Reihe von Besuchern, die ihren Freund und Gönner in Lotzdorf während seiner Kuren aufsuchten, darunter der berühmte Landschaftsmaler der Romantik, Caspar David Friedrich. All das blieb den Lotzdorfern offensichtlich verborgen. Wilhelm von Kügelgen hatte sich mit seinen Lebenserinnerungen in das Gedächtnis der Lotzdorfer projiziert, und da Menschen gern andächtig erschauern, wenn es heißt: „...dort hat Goethe gesessen, Schiller gedichtet, Wagner komponiert...“, wollten sie auch eine Berühmtheit aufweisen, denn „Wilhelm von Kügelgen verbrachte hier Tage seiner Kindheit“ – ein damals Kleiner unter ganz Großen, die hier auch ihre Tage verbrachten, aber offensichtlich im Gegensatz zu ihm ziemlich vergessen wurden.

 

Die Welt ist eben doch ungerecht!

 

Quellen:

1.    Wilhelm von Kügelgen: „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ (1870)

2.    Fr. Chr. Aug. Hasse: „Das Leben von Gerhard von Kügelgen

      (Leipzig / Brockhaus 1824).

3.    Fr. Chr. Aug. Hasse: „Dresden und die umliegende Gegend

      (Pirna / Arnoldische Buchhandlung 1801)

 

 Renate Schönfuß-Krause