Schule einst und jetzt - der Blick in die Geschichte ist für die Bewertung des "Heute" unerlässlich. Das Schulsystem und damit die Bildungspolitik ist in der Bundesrepublik Deutschland Ländersache. 16 Bundesländer fabrizieren 16 unterschiedliche Länder-Schulsysteme mit den unterschiedlichsten Schulformen, Lehrplänen und Prüfungsinhalten - ein unüberschaubarer Wirrwar, der zusammen mit den teils plan- und konzeptionslosen, fast verzweifelt wirkenden Versuchen zur "Beherrschung und Beseitigung" des selbstverursachten Lehrer- und Erziehermangels zu chaotischen Verhältnissen führt. Und das alles auf Kosten der Schüler, die ständig neuen Experimenten ausgesetzt werden. Und vor allem auf Kosten des Bildungs-Niveaus der heranwachsenden Generation.
Leicht gekürzt veröffentlicht in "die Radeberger" Nr. 24 vom 15.6.2018 und
Nr. 25 vom 22.6.2018
Schulmeister hatten es noch nie leicht...
Wo einst der Rohrstock in der Schule regierte - regiert heute Chaos?
Ernstzunehmende Kritiker und Spötter behaupten das zumindest. Es sei jedoch vorangestellt – Chaos nicht von den Lehrern verursacht, sondern als Ergebnis eines chaotischen Schulsystems.
Schule und ihre Schulmeister – sie standen schon immer im Focus des öffentlichen Interesses und auch der Kritik. Und obwohl Lehrer in grauer Vorzeit auch noch mit Rohrstöcken züchtigen durften – leicht hatten sie es dennoch nie…
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Vergleicht man die Entwicklungen des heutigen Schulsystems mit dem momentanen Chaos eines Lehrer- und Erziehermangels, mit all seinen diskutierten Unzulänglichkeiten und mit dem fast unüberschaubaren Dschungel an Schulformen, so drängt sich dem historisch Interessierten unwillkürlich der Blick in die Vergangenheit auf. Die Entwicklung des Schulwesens ist immer wieder interessant. „Welch eine Veränderung!“ stellt man zumeist erstaunt, oft auch kopfschüttelnd fest, wenn man sich die einstige Macht der Schulmeister vergangener Zeiten vergegenwärtigt, die ihre Schüler noch mit harter Hand und dem Rohrstock traktierten, sie erzogen und durchaus auch unter dem Gesichtspunkt ihrer zukünftigen Rolle als brave und gehorsame Staatsbürger einschüchterten. Wer kennt nicht die alten Fotos von Schulklassen, auf denen zumeist nur ernsthafteste Gesichter zu sehen sind. Man hatte damals nicht viel zu lachen…
Welch eine Veränderung im Vergleich mit heutigen Zuständen, mit einer totalen Umkehr der Verhältnisse, wo es ständig um „Spaß haben“ geht. Auch das einstige Gewaltmonopol der Lehrer hat sich verschoben. An den Schulen wird ein zunehmendes Ausmaß an Gewalt offenbar, die jedoch heutzutage von Schülern ausgeht. Situationen, die absolut nicht selten sind, in denen aggressive Schüler ihre Lehrer und Mitschüler dominieren oder sie sogar, wie in Extremfällen in größeren Städten mit dem Hintergrund gesellschaftlich-sozialer Brennpunkte, bei Amokläufen an ihrer Schule mit Waffengewalt und „Todeslisten“ bedrohen. Zunehmend ist auch die Tendenz, mit Droh-Mails erpresserisch Geldforderungen zu stellen. Eine alarmierende Entwicklung in der Gesellschaft, die zumeist unterschätzt wird, weil sie nicht nur auf Schulen reduziert ist. Wenn Lehrern und Erziehern für ihre Erziehungs- und Bildungsarbeit nicht mehr der erforderliche Respekt, die erforderliche Achtung entgegengebracht wird, braucht sich auch niemand über Lehrer- und zunehmenden Erziehermangel zu verwundern. Lehrer erleben heute in vollem Umfang die Breitseite eines gesellschaftlichen Dilemmas und stehen nicht selten vor der Frage, ob sie es schaffen, diesen Job noch weiter auszuführen.
Bereits in dem Artikel „Wenn der Hof nicht mehr alle ernährte“ (in: „die Radeberger“ Nr. 14 und 16/2018) wurde darauf hingewiesen, dass besonders die Schulen immer wieder den Spiegel einer Gesellschaft darstellen. Dass dies schon immer so war, ist in Niederschriften und Akten nachzulesen, bereits aus einer Zeit, als der Lehrerstand noch absolut der Kirchenhoheit und kirchlichen Aufsicht unterstellt war. Lehrer und Prediger stellten von jeher die Stützen der Gesellschaft dar, und jede gesellschaftliche Veränderung brachte auch zumeist drastische Veränderungen im Schulsystem mit sich. Bis in die heutige Zeit.
Die Lehrer oder Schulmeister an den Dorfschulen des 18. und 19. Jahrhunderts waren oftmals nur dürftig ausgebildet. Zum Teil wurden sogar nur Laien als Lehrer eingesetzt, eine Tendenz, die im Moment, also 200 Jahre später, wieder hochaktuell ist. Da das Einkommen eines Lehrers in früheren Zeiten zum Leben nicht ausreichend war, mussten die meisten Lehrer noch Landwirtschaft oder ein Handwerk betreiben. Wie elend das Los eines Dorflehrers war, sieht man in den Einträgen der Schulinspektionen in Lotzdorf. So gaben am 30. Januar 1828 die Radeberger Schulinspektoren, Superintendent Hofmann und Justizamtmann Erler, den Richtern Großmann zu Lotzdorf und Wilhelm zu Liegau die Empfehlung, „…den Kinderlehrer Claus seines Amtes zu entheben, das er wegen seines hohen Alters und der damit verbundenen Schwäche nicht mehr versehen kann. Gleichwohl ist auch darauf Rücksicht zu nehmen, daß Claus, welcher beinahe ein halbes Jahrhundert die Kinderlehrer-Function nach Kräften in Lotzdorf verwaltete, in seinem hohen Alter durch eine verhältnismäßige Provision unterstützt werde, damit der Mann, die wenigen Jahre, die ihm Gott noch schenkt, nicht darben möge.“ Dem Nachfolger von Claus, Lehrer Johann Gotthelf Großmann, erging es nicht besser. Der 1805 in Leppersdorf bei Radeberg geborene Großmann wurde bereits 1822, also im Alter von 17 Jahren, Kinderlehrer in Mittelbach bei Pulsnitz, und er war ebenfalls ein „Unstudierter“. Er bewarb sich um die freie Lehrerstelle zu Lotzdorf, „zu deren Verwaltung ich mich sowohl im Schriftthum als auch Schreiben und Rechnen nicht weniger Music nach allen Kräften vorbereitet habe“. Die Zahlungsfähigkeit der Eltern seiner Schüler für das wöchentliche Schulgeld war gering, denn die Höfe wurden im Lotzdorfer Gemeindebuch fast alle als „verschuldet bis sehr hoch verschuldet“ eingetragen. Sicherlich war er, wie damals üblich, auf reichliche Naturalgaben angewiesen. Er erhielt noch Holzgeld, um die Schulstube zu heizen, und in den Gemeindeunterlagen ist „ein zur Schule zugehöriger Schweinestall“ protokolliert. Großmann hatte das Amt 50 Jahre als einziger Kinderlehrer für Lotzdorf und Liegau inne. Die Schülerzahlen betrugen von 1867 bis 1877 jährlich rund 130 Kinder.
Welch elendes Los aber offenbar auch manch einen Lehrer ereilen konnte, der als ein hoch gebildeter und begabter Studiosus der Theologie die Leipziger Universität absolviert hatte, findet man in einer im Jahr 1718 herausgegebenen „Lebensbeschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter“ dieser Zeit. Ein Eintrag führt zu einem „Johannes Hecht, Studiosus Theoligae, Kaiserlich Gekrönter Poet und Schulmeister zu Wachau in Meißen“ (Wachau bei Radeberg, im „Meißner Kreis“). Auf Grund seiner Verdienste wurde Hecht von der Leipziger Universität literarisch ausgezeichnet und erhielt vom Obersten Regenten des Heiligen Römischen Reiches, Kaiser Leopold I. (1640-1705), den hohen Titel „Kayserlich Gekrönter Poet“ verliehen. Eine hohe Würde, denn Johannes Hecht hatte 1682 an die 66 Gedichte herausgegeben, „viele Teutsche Lieder unterschiedlicher Autoren, aber auch von Martinus Luther, ins Latein übersetzet und viele gelehrte Lieder-Anmerkungen hinzugefügt (…)“. Selbst der Professor und Rektor der Universität Leipzig, der Polyhistor (Universalgelehrte) Joachim Feller (1638-1691), sprach ihm seine Hochachtung aus. Aber trotz dieser hohen Würde und Auszeichnung führte den Kaiserlichen Poeten sein kümmerlicher Broterwerb nach „Wachau in Meißen“ bei Radeberg, wo er an die 18 Jahre als Ludimoderator (Grundschullehrer) und Schulmeister tätig war. In dieser Provinz verkümmerte sein Genie offensichtlich, und er wurde vergessen, denn später wurde resümiert: „Ob aber Hecht von seinem Wachauer Schulmeisters-Dienst weiter befördert worden, ist unbekannt. Inzwischen ist es ein Beweiß, in was fuer geringen Schulstaub oft die herrlichsten Leute ihr muehsames Leben hinbringen muessen“. Wie wahr! Und es folgten in der Lebensbeschreibung von 1718 als weitere Feststellungen: „…dass es dennoch wichtig sei, fromme Studiosi Theologia für Schulmeister-Dienste auf den Dörfern einzusetzen, da die unstudierten Lehrer oft selbst nicht mehr als lesen und schreiben und einen Choral-Gesang auf der Orgel herleiern können und manch herrliches dörfliches Genie deshalb versauern muss".
Da die Schulbildung bis zur Einführung des ersten sächsischen Schulgesetzes von 1835, „das Elementar-Volksschulwesen betreffend“, unter kirchlicher Obhut lag, wurde bis dahin vor allem, neben etwas Schreiben, Lesen und Rechnen, der besondere Wert auf die Erziehung im christlichen Glauben gelegt, auf Gesang der Kirchenlieder und das Auswendiglernen biblischer Verse. Erst mit der staatlichen Durchsetzung dieses Gesetzes, das alle Schulanforderungen staatlich regelte, wurde die Unterstellung der Schulen unter die Kirche aufgehoben und den Gemeinden übertragen. Diese waren von nun an verantwortlich für die Durchsetzung der achtjährigen Schulpflicht, für die Einführung wissenschaftlicher Lehrplaninhalte im Sinne der Aufklärung und für den verstärkten Einsatz ausgebildeter Lehrer. Die Aufsicht über die Schule blieb jedoch bei dem örtlichen Pfarrer oder Superintendenten. Im Jahr 1871 wurde mit der Reichsgründung eine neue Grundlage für die Schulgesetzgebung geschaffen, die 1873 mit dem „Königlich-Sächsischen Volksschulgesetz“ neue Unterrichtsinhalte festlegte, das Recht auf Bildung und den kostenlosen Schulbesuch festschrieb und die Untergliederung der Volksschulen in einfache, mittlere und höhere vornahm. In Sachsen wurde ebenfalls die Ablösung der kirchlichen Schulaufsicht zugunsten einer professionellen staatlichen vorgenommen, die von nun an aus fachkundigen Direktoren und pädagogisch ausgebildeten Schulinspektoren bestand. Damit war Sachsen seiner Zeit weit voraus, denn einheitlich für das gesamte Deutsche Reich erfolgte dieser Schritt erst mit dem Übergangsschulgesetz vom 22. Juli 1919 sowie der Weimarer Verfassung und der Trennung von Kirche und Staat.
Aber Sachsen ging noch durchaus einen Schritt weiter. Bereits mit der Verordnung vom 6. Dezember 1918 wurde der bisher für alle Schüler der Volksschule verbindliche Religionsunterricht im ehemaligen Königreich Sachsen aufgehoben, zunächst für Kinder von Dissidenten, die nun die Möglichkeit einer staatlichen Jugendweihe anstatt der Konfirmation erhielten. Ab 1919 war die Teilnahme am Religionsunterricht für alle Schüler freigestellt und Entscheidung der Erziehungsberechtigten. Am 1. April 1920 wurde das Gesetz zur „Einführung der weltlichen Volksschule in Sachsen“ beschlossen. Das sächsische Kultusministerium erließ 1921 weiterführende Gesetzesgrundlagen, die eine strikte Trennung des Kirchen- und Schuldienstes der Volksschullehrer festschrieb, außerdem erließ die sächsische Regierung eine „Verordnung über die Schulerziehung der Jugend im republikanischen Geist“, mit der Lehrern und Schülern jegliche Unterrichtsbefreiung für religiöse Veranstaltungen, außerhalb der gesetzlichen Feiertage, untersagt wurde. Der Staat hatte erkannt, dass Religion im Unterricht keine weltanschaulich neutrale Erziehung zum Inhalt haben konnte, denn wenn Kindern im Religionsunterricht der zentrale Bestandteil des christlichen Glaubens vermittelt wurde und wird, dass Gott die Welt erschaffen hat, wird die Schule nicht zum Ort der Erkenntnis – sondern zum Ort des Bekenntnisses, wird Schule nicht zum Ort der Aufklärung – sondern zum Ort der Verklärung.
Lehrer hatten trotzt neuer Gesetze weiterhin ihre liebe Not, wie man aus den Protokollen des Stadtrates Radeberg und der Schulgemeinde Lotzdorf ersehen kann. Ungeachtet der neuen Schulgesetzgebung von 1873 nahm die Zahl der unberechtigten Schulversäumnisse zu. Radeberg hatte sich zu einem aufstrebenden Zentrum der Industrialisierung entwickelt, und viele Familien waren auf die finanzielle Unterstützung durch die Arbeit ihrer Kinder in den Radeberger Industriebetrieben angewiesen oder auf ihre bezahlten Botengänge für Handelsleute und Privatpersonen. Eltern, die ihre schulpflichtigen Kinder nicht zum Schulbesuch anhielten, konnten vom Stadtrat Radeberg mit Bestrafung von 30 Mark oder sogar entsprechenden Haftstrafen belegt werden. Kamen die Kinder zu spät zum Unterricht oder schliefen sie vor Übermüdung wegen der zusätzlichen Arbeit ein, tanzte bei den Knaben schmerzhaft der Rohrstock auf ihrem Hosenboden, während man den Mädchen mit Rutenschlägen über ihre ausgestreckten Hände und Finger „Ordnung beibrachte“…
Am 6. Februar 1888 unterbreitete der Radeberger Schuldirektor Hamann dem Stadtrat zu Radeberg einen Antrag mit dem Vorschlag, eine „Beschäftigungsanstalt für aufsichtslose Knaben“ zu errichten, „um sie außerhalb der Schulzeit mit geregelter Arbeit zu leiten und zu erziehen“. Seine Begründung gibt Einblick in damalige Radeberger Verhältnisse, wenn er darlegt: „Infolge unserer Fabrikverhältnisse lässt sich vielfach die nachtheilige Wahrnehmung machen, dass sich viele Kinder, besonders Knaben, aufsichts- und beschäftigungslos außerhalb der Schulzeit umhertreiben, weil die Eltern daselbst von früh bis abends in den Fabriken beschäftigt sind. Die Folge davon ist, daß solche Kinder sich an ein ungebundenes Leben gewöhnen, auch während der Schulzeit umherstreifen, allerhand muthwillige Streiche ausführen und auf solche Weise der Verwahrlosung entgegengehen.“
Überhaupt hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts der Direktor und die Lehrerschaft zunehmend gegen klageführende Eltern zur Wehr zu setzen, verbunden mit viel Ärgernissen. Eine Frau Ida, verehelichte Klempnermeister Mertens, richtete eine Eingabe an den Rat der Stadt, da ihre Tochter Ida mit einigen Mitschülerinnen, nach Meinung der Mutter ungerechtfertigt, in eine Knabenklasse versetzt worden war. Sie befürchtete, dass die Knaben einen schädlichen Einfluss auf die Mädchen ausüben könnten. Direktor Hamann versicherte die Harmlosigkeit der äußerst braven und fleißigen Knaben und musste in mehreren Schreiben diesen Schritt begründen, denn die Mädchenklasse hatte die Anzahl von 70 Schülerinnen erreicht, wobei die Klassenstärken grundsätzlich im Durchschnitt bei mehr als 50 Schülern lagen. Ein Schuhmacher Neumann wiederum führte Beschwerde gegen Hilfslehrer Trömel. Der hatte den Knaben Gustav Neumann „...als einen trägen Burschen, der zu wiederholten Malen die aufgegebenen Rechenexempel und andere schriftliche Arbeiten nicht gefertigt hatte, mit einem ganz dünnen Rohrstöckchen in durchaus angemessener Weise bestraft“ und musste nun mehrmals diese Züchtigung verteidigen. Und auch Unappetitliches hatten die Lehrer zu ertragen, denn als Lehrer Krug im Mai 1884 bei dem 10-jährigen Richard, Sohn des Schneidermeisters Lindner, bereits zum vierten Mal Ungeziefer auf dem Kopf und Wanzen auf der Kleidung entdeckte und ihn nach Hause geschickt hatte, löste das eine Welle der Empörung bei den Eltern aus. Die Mutter beteuerte ihre Reinlichkeit und „...daß ihre Knaben ganz rein von Ungeziefer sind, da sich dieselben täglich mehrere Male kämmen und die Sachen ausbürsten – überhaupt geht das ihnen nichts an und das Schulzimmer ist mit Ungeziefer behaftet“. Sie drehte den Spieß um, beschuldigte die Schule der Unsauberkeit, drohte dreist mit einer Anzeige beim Schulvorstand, und der Direktor konnte sich schließlich der verbalen Angriffe nur durch eine Strafanzeige gegen die Eltern erwehren. Schließlich endete alles mit einem Verweis gegen den Vater.
Lehrer zu sein, war also wirklich schon immer schwer und auch undankbar, daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur die Probleme und Ärgernisse haben sich gewandelt. Der Beruf eines Lehrers – noch nie wurde er heißer diskutiert als im Moment. Viele Ungereimtheiten lösten in letzter Zeit allgemeines Kopfschütteln aus und führten zu den unterschiedlichsten Spekulationen. Chaos im Schulsystem? Das war zum Teil noch eine harmlose Formulierung. Eigentlich setzte das Dilemma mit der kuriosen Offenbarung der „plötzlich, ganz unverhofft auftretenden Problematik eines Lehrermangels“ ein, in Größenordnungen, die den Schulbetrieb gefährdeten. Hatte man übersehen, dass Lehrer und Lehrerinnen nicht nur wegen Krankheit oder Schwangerschaft ausfallen können? Sondern dass sie auch in Ruhestand gehen? Offenbar ja. Vermutlich hatte man in dieser unserer „neuen Zeit“ auch verlernt, wie wichtig Planwirtschaft schon von jeher war? Und dass es nur durch die unverzichtbare demografische Statistik möglich wird, Prognosen zu erstellen, um daraus langfristige Maßnahmen ableiten zu können, in Etappen zu planen und umzusetzen, die solche „plötzlichen Überraschungseffekte“ ausschließen? Aber nicht genug damit, denn auch die folgenden, fatalen hektischen Gegensteuerungen staatlicher Stellen gegen diese sich anbahnende Misere machte die Lage der Lehrer und des Schulbetriebes nicht besser. Die schnell auf den Weg gebrachten „Maßnahmen in letzter Minute“ mit Versuchen, Versäumnisse in der Bildungspolitik mit einem schnell gezimmerten „Bildungspaket“ auszugleichen, so wie die geplanten Verbeamtungen jüngerer Lehrer bis 42 Jahre, was wiederum zu einer ungerechten Zurückstellung und begründeten Verärgerung der älteren Lehrergeneration führen musste, die auf eine vielfachere Erfahrung in vielen Dienstjahren verweisen können und die nun aus Altersgründen nicht mehr in den Genuss einer Verbeamtung kommen sollen, brachte erneuten und durchaus berechtigten Unfrieden unter die Lehrerschaft. Ganz zu schweigen von der Diskrepanz, dass über Grundschullehrer, als langjährig erfolgreich Beschäftigte mit solider DDR-Ausbildung, diskutiert wird, ob sie den Anforderungen an das Schulsystem auch gewachsen sein könnten. Das kommt schon fast einer Diskriminierung gleich, wenn im Gegenzug der jetzigen „Notsituation“ total ungelernte Pädagogen als Quereinsteiger im Schnellverfahren, durch noch zusätzlich an ihre Seite gestellte „Ausbildungs-Navigatoren“, eingearbeitet werden sollen und bereits im Vorfeld ihrer Tätigkeit mit Lobeshymnen bedacht werden. Der Hick-Hack scheint langsam komplett zu werden, ebenso wie die weiteren Ungerechtigkeiten gegenüber altgedienten Lehrern, denn plötzlich werden im Juni 2018 Lehrer-Anwärtern, die also noch gar keine Lehrer sind und sich für die Lehrtätigkeit auf dem Land verpflichten, bis zu 1000 Euro Zuschlag zusätzlich zu ihrem Gehalt versprochen, oder man bemüht sich, Lehrer aus Bayern oder Baden-Württemberg anzuwerben, um den selbstverursachten Missstand schnell in den Griff zu bekommen. Auch für diese Import-Aktion werden nun extreme Anstrengungen unternommen und viele Möglichkeiten erwogen, mit welchen Vergünstigungen Interessenten für den Schritt in Richtung Ostdeutschland zu stimulieren wären. Eine Denk- und Verfahrensweise, die aus der jüngsten Vergangenheit nur noch allzu bekannt ist und die nicht immer die beste Qualität ins Land holte, noch weniger zu einem besseren Endergebnis führen muss.
Aber was bei all dem Chaos des „plötzlichen“ Lehrer- und Erziehermangels, dem Gerangel um Anerkennung, um gewünschte und sicherlich auch verdiente Wertschätzung, Versprechen von Zulagen und gehaltlicher Neugruppierungen viel zu kurz kommt – das sind diejenigen, um die es eigentlich gehen sollte: die Schüler und ihr Anspruch auf Bildungsqualität. Sie erleben Unterrichtsstunden-Ausfall in Größenordnungen, Lehrer ohne volle Lehrbefähigung, Quereinsteiger ohne jegliche fachliche und pädagogische Vorbildung – und wenn Ministerpräsident Michael Kretschmer auf Schülerproteste hin öffentlich einräumen musste, dass in „Lehrerzimmern der Oberlausitz 60 bis 70 Prozent Seiteneinsteiger sitzen“, ahnt wohl ein jeder, wo unser Schulsystem, wo unsere Bildungspolitik steht. Auch verwundert nicht mehr die zunehmende Tendenz zu sprachlichen Defiziten einer Generation, die teilweise in keinen zusammenhängenden Sätzen mehr denken und sich noch weniger ausdrücken kann. Sätze wie „Isch geh Schulhof“ - werden zu einer beängstigenden Alltagssprache und Ausdrucksform.
Außerdem gewinnt man durchaus den Eindruck, dass diese so oft zitierte „Nachhaltige Bildungsqualität in Sachsen“ in einem für Außenstehende fast unüberschaubaren Dschungel von Schulformen, mit unterschiedlichsten Konzepten, verloren geht. 16 Bundesländer bedeuten 16 eigene Sonderlösungen für das Schulsystem, 2500 Lehrpläne und ca. 100 unterschiedliche Schultypen. Jedes Land „kocht sein eigenes Schul-Süppchen“, mit eigenen Lehrplänen, Schwerpunkten, Fächerangeboten und starken Unterscheidungen der Abschlussprüfungen. Schulen, ob staatliche oder private, konfessionelle, die an eine Glaubensrichtung gebunden sind, obwohl doch bereits 1919 die Trennung von Kirche und Staat erfolgte, oder Alternative Schulen mit besonderen pädagogischen Konzepten, schaffen mit ihren unterschiedlichsten An- oder auch Nichtanforderungen unterschiedlichste Bildungs-Niveaus, die durchaus Experimenten gleichen. Zumeist sind das nicht wiedergutzumachende Experimente auf Kosten der Bildung und Erziehung einer nachwachsenden Generation. Kinder werden zu Versuchskaninchen und sind letztendlich die Leidtragenden. Ein Beispiel dafür war das 2010 per Gesetz im Bundesland Berlin eingeführte „JÜL-Schulsystem“ (Jahrgangsübergreifendes Lernen). Die Neuheit bestand darin, dass es keine ersten, zweiten oder dritten Klassen mehr gab, sondern nur noch „Lerngruppen“, in denen Erst-, Zweit- und Drittklässler zu jeweils einem Drittel gemeinsam unterrichtet wurden. Genau wie vor 200 Jahren in den Dorfschulen, saßen jetzt 25 Kinder in einer Altersspanne von sechs bis neun Jahren in einem Raum, um etwas zu lernen. Dieses irrwitzige Unterrichtskonzept basierte auf dem hehren Gedanken, dass die Kinder ein soziales Miteinander lernen, sich gegenseitig unterrichten und unterstützen sollten. Der Lehrer, dem die Vorbereitung des Unterrichtes für drei verschiedene Altersklassen oblag und der nun die Lehrstoffe gleichzeitig in einem Raum an die Lerngruppen der Kinder zu vermitteln hatte, war eine Rolle als „Moderator“ zugedacht, was immer man auch darunter verstehen wollte. Das Projekt scheiterte kläglich, der Wissensstand der jeweiligen Drittklässler glich einer Katastrophe und die Lehrer waren verständlicherweise total überfordert. Wen wundert das? Handelte es sich doch um längst veraltete Konzepte, die hier wieder ausgegraben wurden, die an graue Vorzeiten vergangener Jahrhunderte mit einer mangelhaften Schulbildung in den Dorfschulen erinnerten.
Aber auch die Schulsysteme der Freien Schulen sind teilweise kritisch zu sehen, die nicht an staatliche, einheitliche Lehrpläne gebunden sind, in ihren Konzepten vertretbaren Leistungsdruck und feste Stundenpläne ablehnen und wo Schüler in den ersten Jahren ihren „Neigungen“ nachgehen können. Keine Spur von Erziehung zur Pflichterfüllung, keine Hausaufgaben, keine Benotung der Leistungen.
Noch prekärer die Konzepte, wo Schüler in den ersten drei Schuljahren erst einmal das Fehlerhafte vermittelt bekommen, um anschließend dann das Richtige zu erlernen, wenn Sitzenbleiben grundsätzlich ausgeschlossen oder höchstens verniedlicht als „Verweilen“ bezeichnet wird und wenn das Konzept auf die Selbstbestimmtheit der Schüler und ihren „natürlichen Drang zum Lernen“, auf ihre Vernunft zum Tätigwerden ausgerichtet ist. Damit fehlen jegliche Qualitätsmerkmale, jegliche Vergleichbarkeit der Bildungsinhalte. Auch Konzepte, die ihr Schwergewicht der Erziehung auf „religiöse Persönlichkeitsbildung legen und nicht auf das Ansammeln von Bücherwissen“, erinnern an das Aufleben längst vergangener Zeiten, als einst um 1817 in Basel der Plan verfolgt wurde, mit diesem Konzept mittellose Gemeinden in der Schweiz vor der „moralischen und geistlichen Verwilderung (…) zu retten“.
Auch wir bedürfen offenbar dieser „Rettung“. Lehrer sprechen von zunehmenden haarsträubenden Rechtschreibeschwächen. Das verwundert nicht. Bereits im Jahr 2001 schreckte uns erstmalig die Pisa-Studie mit der Wahrheit über Deutschlands Mittelmäßigkeit eines, bisher vermeintlich großartigen und hochgelobten, Bildungssystems auf. Wohin geht unser Bildungsniveau, wohin geht diese Reise? Die Devise: Nur nicht fordern, nur nicht wehtun, sondern „viel Spaß haben“, verführt durchaus zu der Frage: Wer wird hier wie und mit welchem Ziel erzogen? Das schon als Programm zu sehende ständige Schönreden von Leistungen oder Nichtleistungen, das Augenverschließen vor der Wahrheit und „Hätscheln“ mit guten Bewertungen, darf dabei sicherlich unter dem Gesichtspunkt eigener Interessen der jeweiligen Schulträger gesehen werden. Zufriedene Schüler haben zumeist noch zufriedenere Eltern, die ja das nicht unerheblich hohe Schulgeld bezahlen und die Schule natürlich auch weiterempfehlen sollen. Vergessen wird nur allzu gern, dass eine bessere Bildung nicht automatisch mit dem Zahlen von viel Schulgeld garantiert sein muss. Ganz im Gegenteil.
Die Frage steht durchaus: Wie will eine Generation, die zunehmend dazu erzogen wird, sich stets allen Anstrengungen, jeglicher Disziplin und vertretbarer Forderung zu verweigern, deren Lieblingswort „Stress“ bei den geringsten Anforderungen ist, die keine Vergleichsmöglichkeit als Maßstab der eigenen Leistung mehr kennt, wie will diese Generation im Leben bestehen? Denn die alten Sinn-Sprüche gelten noch immer: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, und die zunehmende Tendenz junger Leute, „einfach keinen Bock mehr zu haben“, ob auf Beruf, Arbeit oder jegliches Tun, spricht Bände…
Bände über eine verfehlte Erziehungspolitik und mangelhafte Bildung. Ausbildungsbetriebe, die für ihre Branche händeringend geeignete Auszubildende suchen, können über ihre Erfahrungen mit lustlosen, arbeitsunwilligen oder auch unfähigen Bewerbern bereits ganze Romane veröffentlichen.
Wie weit unser Denken und Handeln in den vergangenen dreißig Jahren, auch im Hinblick auf die Schulbildung, vollkommen im Sinne der Marktwirtschaft gesteuert wurde und wird, ist erschreckend. Längst hat man offensichtlich vergessen, dass die Errungenschaften humanistischen Gedankengutes der letzten 200 Jahre, für die Entwicklung eines gesunden Staatswesens, immer noch Bestand haben. Unsere Vorväter hatten aus gutem Grund, mit stetig überarbeiteten und verbesserten Schulgesetzen immer wieder dafür gekämpft, dass man allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen eine bestmögliche Bildung ermöglicht und garantiert. Es wurde als eine der wichtigsten und vornehmlichsten Aufgaben des Staates angesehen, Kindern gleiche Startchancen für ihr Leben zu bieten. Dabei wurde in vergangenen Zeiten mit den halbjährlichen Schulinspektionen vor allem auch die Umsetzung der vorgegebenen Zielstellung durch den Staat kontrolliert. Heute scheint das, durch das vorherrschende Chaos der unterschiedlichsten Bildungssysteme und der damit verbundenen Niveauunterschiede, von staatlicher Seite aus kaum mehr überschaubar zu sein. Die sozialen Unterschiede werden durch die unterschiedlichen Schulformen regelrecht vorgezeichnet.
Unsere deutsche Schulpolitik ist wiederum in der bildungspolitischen Kleinstaaterei angekommen. Das ist erschreckend und wird aktuell dokumentiert, wenn man das Themenangebote zu Veranstaltungen des Sächsischen Lehrerverbandes anlässlich des Dresdner Lehrertages am 28.September 2018 einsieht. Da geht die Fachwelt unter anderem folgenden Fragen nach: „Ist die Schule eine Oase für Mädchen?“ Oder „Macht Geschlechtertrennung Sinn?“
„Willkommen im Mittelalter“ - kann man dazu nur noch sagen!
Wie klug und vorausschauend unsere Altvorderen über den hohen Wert der Volksbildung dachten, kann man aus einem Schreiben des Dresdner Buchhändlers Christoph Arnold aus dem Jahr 1838 an die Stadtverordneten Dresdens ersehen. Arnold wird als „einer der würdigsten und geachtetsten Bürger seiner Zeit“ bezeichnet, und er sicherte dem Vorstand der Stadtverordneten Dresdens ab 1839 die Errichtung einer „(Arnoldschen) Stiftung für Schulbibliotheken“ zu, mit der er „alljährlich jeder öffentlichen Schulanstalt in Dresden, ohne Unterschied der Religion, Bücher und Landkarten aus seiner Buchhandlung unentgeldlich liefern würde, die für den Aufbau fruchtbringender Schulbibliotheken verwendet werden sollten.“ Seine Begründung für diese edle Stiftung und bemerkenswerte Tat war „Das Wissen um seinen Glauben, daß eine sorgfältige Erziehung auch das Bessere im Menschen hervorrufe“.
Genau aus diesem Grund sind damalige Forderungen heute bereits wieder hoch aktuell. Dummheit kann man nur durch Bildung beseitigen.
Keine einheitlichen Bildungsstandards, mangelhafte Bildung, keine weltanschaulich neutrale Erziehung, Spracharmut, gutes Deutsch nur noch als Sprache der Vergangenheit – Verantwortungsbewusste schlagen im Verbund mit Pädagogen und Germanisten Alarm! Und das zu Recht! In unserer Schullandschaft sind nicht nur erstklassig ausgebildete Pädagogen gefragt, sondern vor allem auch das Verantwortungs-Bewusstsein einer Staatsführung mit der Garantie einheitlicher, langfristiger und durchgängiger Konzepte, und nicht mit ständigen Notlösungen.
Denn die Mixtur einer zunehmenden Bildungsarmut, die im Zusammenhang mit Perspektivlosigkeit zu dem daraus resultierenden sozialen Kreislauf mit existentiellem Dauerstress führt, ist in einer Gesellschaft äußerst gefährlich und kann als Endergebnis durchaus Frustration, Rücksichtslosigkeit und Gewaltbereitschaft nach sich ziehen.
Alle, die sich verantwortlich fühlen oder Verantwortung tragen, sollten sich die Fragen stellen:
Was tut man mit dieser Bildungspolitik unseren Kindern an?
Was tut man letztendlich damit uns allen an?
Nachtrag aus aktuellem Anlass (Sächsische Zeitung vom 27. Juni 2018 "Sachsen kürzt Unterricht und spart Lehrerstellen"):
Die Sächsische Zeitung teilte in o.g. Ausgabe mit, dass Kultusminister Christian Piwarz eine Reform der Stundentafeln an Grund-, Oberschulen und Gymnasien im Freistaat Sachsen am 26. Juni 2018 bekanntgab. So wird es an Oberschulen eine Stundenreduzierung von sieben Wochenstunden geben, an Gymnasien von sechs Wochenstunden, an Grundschulen drei Unterrichtsstunden weniger. Den Schulen obliegt es, die Fächerreduzierung in eigener Regie zu lösen. Nur die Fächer Ethik und Religion sind "aus verfassungsrechtlichen Gründen" von dieser Änderung ausgeschlossen. "Gleichzeitig räumte der Minister ein, dass der Freistaat damit 770 Vollzeit-Lehrer einspart".
Bei näherem Nachdenken gibt es vielleicht eine viel einfachere Lösung des Problms, Herr Minister Piwarz.
Wie wäre der Vorschlag: "Abschaffung der Schulpflicht, damit automatische Abschaffung des Lehrermangels, den Rest übermittelt wie vor 200 Jahren der Pastor -
und für die nächsten Wahlen genügen dann sicherlich auch XXX?"
Oder?
Renate Schönfuß-Krause
Lotzdorf-Historikerin
22. Juni 2018
Quellen: