„Hilfe, die Zigeuner kommen!“

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Zigeuner auch in Lotzdorf. Wie ging man mit ihnen um? Wie behandelte man sie? Staatliche Regeln, Vorschriften und Vorkommnisse aus Akten aus dem Stadtarchiv Radeberg
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„Hilfe, die Zigeuner kommen!“

Wenn sich dieser Schreckensruf durch das kleine Dorf Lotzdorf verbreitete, bestanden die ersten Reaktionen der Dorfbewohner zumeist in der schnellen Sicherung des Eigentums. Die Häusler- und Bauersfrauen nahmen die Wäsche von der Leine oder der Bleiche (Wäsche, die im Gras ausgebreitet wurde, damit die Sonne die Leinenstoffe bleichen konnte), die Männer kontrollierten Schlösser an Türen, Toren und Fenstern. Auch Gerätschaften, die das Jahr über unbeachtet im Hof und Gelände herumgestanden hatten, wurden eiligst aufgeräumt, die Stallungen und das Vieh gesichert. Die Verbreitung dieser Nachricht brachte die Dorfbevölkerung auf Trab. Auch die Dorfkinder wurden sofort mit Verhaltensregeln ausgestattet, und Kleinkinder wurden mit besonderer Fürsorge bewacht. Zu tief waren noch in dem Volksgedächtnis die Überlieferungen aus vergangenen Zeiten verwurzelt, wo Zigeunerbanden angeblich auch Kinder verschleppten. Der berühmte französische Schriftsteller Victor Hugo (1802-1885) widmete diesem Thema seinen Roman „Die lachende Maske“, der im Jahr 2012 mit Gerard Depardieu verfilmt wurde.

 

Akte Nr. 2061 / 151-02 Stadtarchiv Radeberg mit dem Titel "Zigeunerplage"
Akte Nr. 2061 / 151-02 Stadtarchiv Radeberg mit dem Titel "Zigeunerplage"

Dem sogenannten „Fahrenden Volk“ ging ein schlechter Ruf voraus - berechtigt oder unberechtigt. Fremdes, Andersartiges, Andersdenkendes und -Handelndes wurde von jeher von den einheimischen Bevölkerungsschichten voller Argwohn und Misstrauen beobachtet. Und gar noch Fremdlinge mit Pferden und Planwagen, an denen Tanzbären angekettet waren, Familienclans, bestehend aus mehreren bunt zusammengewürfelten Familien mit zahlreichen Kindern, die als Bärenführer, Musiker, Wahrsager, Schausteller, Kesselflicker, Pferdehändler, Kammerjäger, Regenschirmmacher, Possenreißer, Seiltänzer, unstet und oft auch ohne festen Wohnsitz durch die Lande zogen und ihre Dienste anboten, waren besonders suspekt.

 

Ihr Lager schlugen die Zigeuner, zumeist mit eingeholter Genehmigung, auf Besitzungen der Gemeinde oder des Gutsbezirkes auf. Zugewiesene Plätze waren Wiesen, Waldungen oder Sandgruben. Wenn die wandernden Zigeuner auftrafen, versuchte man sie bei längeren Aufenthalten immer weit weg von den Behausungen der Ortschaften zu halten. Die Lotzdorfer Flur scheint, bedingt durch ihre günstige Lage in unmittelbarer Nähe der Großen Röder, ein besonders beliebter Ort für Zigeuner zum Lagern gewesen zu sein, was bei den Bauern nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß. Hier fanden sie alles, was sie zum Leben benötigten: saftige Wiesen, frisches Wasser, Felder mit Nahrungs- und Futtermitteln. In einer Beschwerde an das Ministerium des Innern zu Dresden am 24. Januar 1894 wurde über die Zigeuner ausgesagt, „...dass das Eigentum der Landwirte in den Landgemeinden durch die umherziehenden Zigeuner geschädigt wird, und da sie außer Landstreicherei und Bettelei auch Pferdehandel betreiben, führen sie eine erhebliche Anzahl Pferde mit sich, die einen erheblichen Schaden verursachen. Außerdem verüben die Zigeuner außer dem Feld- und Walddiebstahl auch Hausdiebstähle.“ Von der unvorstellbaren Armut, in der ein großer Teil der Zigeuner lebte, und die nicht immer selbstverschuldet war, ist in keiner Akte die Rede.

Das "Zigeunergrab" bei Lotzdorf
Das "Zigeunergrab" bei Lotzdorf

Heute erinnert noch ein markanter Punkt auf der linken Röderseite der Flur Lotzdorf an die Zeiten der wandernden Zigeuner – das sogenannte „Zigeunergrab“. Ob hier wirklich ein Zigeuner seine letzte Ruhe fand, ist nicht belegt, aber im Volksglauben lebt dieser Hügel als Zigeunergrab weiter und regt die Phantasie an.

 

Die Schreckensnachricht: „Die Zigeuner kommen“ überbrachte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zumeist ein Polizist eines Nachbarortes, der zu Fuß oder mit dem Fahrrad seiner Meldepflicht nachkam, um dem Gemeindevorstand des Dorfes Lotzdorf das voraussichtliche Eintreffen und die Anzahl der sogenannten „Zigeunerbande“ anzukündigen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden diese Benachrichtigungen dann über die ersten Fernsprecher möglich. Diese Verfahrensweise traf selbstverständlich nur zu, wenn Zigeuner ihre Reise offiziell und mit Genehmigung durch die Polizeibehörde vornahmen. Die Aufgabe der zuständigen Wachtmeister oder Gendarmen bestand in den Maßnahmen der Personenstands-Ermittlungen, der Registrierung der „Kopfzahl der Bande“, der Prüfung des gesetzlich vorgeschriebenen Wandergewerbescheines und der Tätigkeiten, die angeblich ausgeführt wurden. Alle mitreisenden Personen mussten in den Papieren aufgeführt sein, auch die Kinder. Hatten die Zigeuner keine gültigen Ausweispapiere oder erschienen ihre Angaben den Behörden fragwürdig, so wurden sie dem Amtsgericht Radeberg wegen „Verdacht der Landstreicherei und Bettelei“ übergeben und in den Arrestzellen bis zur Klärung ihrer Lebensumstände in Gewahrsam genommen. Und das konnte dauern. Zumeist stimmten die Angaben über die angeblichen Heimatorte nicht oder der ganze Trupp stellte sich unwissend und verweigerte die Aussagen. Damit konnten sie nicht abgeschoben werden, und der Stadtrat, die Amtshauptmannschaft Radeberg, war in der Pflicht, ihre Herkunft zu ermitteln. Dieses Verhalten der Zigeuner war besonders bei Einbruch der Wintermonate verstärkt zu beobachten, denn die Versorgung und Unterbringung der Familien in den Arrestzellen nebst der Betreuung ihrer Pferde half ihnen, den Winter zu überstehen. So gelang es einem Zigeunerclan mit Namen Dodor sogar, sich einen zweiten Winter wieder im Raum Radeberg aufgreifen und inhaftieren zu lassen. Für das Radeberger Stadtsäckel eine teure Angelegenheit, denn es waren 4 Männer, 4 Frauen, 20 Kinder und 13 Pferde zu versorgen.

Die Polizeiakte Nr. 2061 des Stadtrats Radeberg aus den Jahren 1886-1934 mit dem Titel „Zigeunerplage“ spricht dazu Bände. So äußert sich der Stadtrat Radebergs an die übergeordnete Königliche Kreishauptmannschaft Dresden im Februar 1894: „(...) wird gehorsamst angezeigt, daß das oftmalige Auftreten von Zigeunerbanden hier und in der Umgebung ebenfalls als Landplage empfunden wird.“

Wurden die Zigeuner nicht aus dem Deutschen Reich ausgewiesen und durften weiterreisen, legte die Polizeibehörde oder Landgendarmerie auch die weitere Wegerichtung fest. Auf dem Weg zu ihrem angegebenen Zielort erhielten sie von den Behörden „Begleitung“, d.h. jeder Ort war im Vorfeld ihrer Ankunft alarmiert worden, und der jeweilige Ortsgendarm nahm die Zigeuner vom vorherigen an der Ortsgrenze mit allen Papieren in Empfang, begleitete sie zu ihrem Rastplatz oder auf ihrem Durchzug gleich wieder zur Ortsausgangsgrenze und übergab sie an den nächsten Wachtmeister. Man ließ die Zigeuner nicht mehr aus den Augen. Sie standen Tag und Nacht unter polizeilicher Beobachtung, denn die Nacht wurde von ihnen gern für den Abbruch des Lagers oder das Verlassen des Gasthofes genutzt, um zu verschwinden und sich weiteren Kontrollen zu entziehen. Weitaus komplizierter wurde der Fall für die Obrigkeit, wenn sie sich ohne Genehmigung im Land herumtrieben. Das war bis zur Reichsgründung 1871, durch die bis dahin bestehende deutsche Kleinstaaterei mit vielen Fürsten- und Herzogtümern und ihren jeweiligen unterschiedlichen Gesetzen, durchaus möglich und üblich. Der Einfall von Zigeunern aus dem heutigen Raum Rumänien, Ungarn, der Slowakei über die österreichisch-böhmische Grenze nach Sachsen war unproblematisch, einzelne Landesgrenzen konnten überwunden werden, und ihr Weiterzug war nur schwer zu kontrollieren. Das änderte sich mit Gründung des Deutschen Reichs 1871. Mit der Schaffung einheitlicher Gesetzlichkeiten, einheitlicher Vorgehensweisen bei der Kontrolle und Bekämpfung des amtssprachlichen „Zigeunerunwesens“, Einleitung sofortiger Ausweisungsverfahren aufgegriffener ausländischer Zigeunerbanden und ihre Abschiebung über die Grenzen des Deutschen Reichs, wurde dem Treiben dieser unerwünschten Randgruppe Einhalt geboten

Zigeunerkinder in Siebenbürgen, um 1920 (Quelle: O. Elekes, Hamburg)
Zigeunerkinder in Siebenbürgen, um 1920 (Quelle: O. Elekes, Hamburg)

Wurden ausländische Zigeuner entdeckt und aufgegriffen, hatte das Deutsche Reich auch ein für heutige Zeiten noch hochaktuell durchdachtes Staats- und Ordnungsgefüge aufgebaut, das für seine Polizei- und Ordnungskräfte eindeutige Anweisungen und präzise Handlungsvorgaben für alle nur erdenklichen Eventualitätsfälle bereithielt, immer unter dem Aspekt des Schutzes der eigenen Bevölkerung vor Gesetzesübertretungen, Belästigungen, Bettelwesen, Landstreicherei. So war in den Verordnungen „Anweisung für die Landgendarmerie zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ ab 1886 klar festgelegt, dass ausländischen Zigeunern der Eintritt in das Reichsgebiet nicht gestattet war. Sie wurden sofort an der Landesgrenze zurückgewiesen bzw. bei illegalem Aufenthalt mit Polizeigewalt ausgewiesen. Diese Anweisungen wurden im Oktober 1886 auf Grund der Gefahr des Einschleppens der Cholera, durch die Zigeuner aus Ungarn und der Slowakei kommend, nochmals verschärft. Für die inländischen Zigeuner strebten die Behörden die Zurückführung zu einer sesshaften Lebensweise mit gesetzlichen Mitteln an. Ihr Weiterzug wurde, wie schon beschrieben, überwacht. Die Polizei war auch angewiesen, die Ausweispapiere, Geburtsscheine, Eheschließungsdokumente, Erfüllung der Steuerpflicht, Militärpflicht, Wehrpflicht und die Wagen auf die Anwesenheit gesuchter Personen zu überprüfen, wie z.B. gesuchter und vermisster Kinder, Krimineller oder Deserteure. Geprüft wurde ebenfalls, ob die Zigeuner im deutschen Steckbriefregister und im sächsischen Fahndungsblatt wegen Straftaten ausgeschrieben waren.

 

Zigeunerjunge, um 1920 (Quelle: O. Elekes, Hamburg)
Zigeunerjunge, um 1920 (Quelle: O. Elekes, Hamburg)

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges nahm das Wanderleben der Zigeuner wieder verstärkt zu, auch aus dem Ausland. Da viele Polizeibeamte zum Heer einberufen wurden, fehlte die genügende Aufsicht, und es breiteten sich größere und kleinere Zigeunerbanden aus, die ihrem „schwindelhaften, müßigen und gesetzeswidrigen Erwerbe nachgehen und umherstreifen. Die Zigeunerinnen führen sich bei leichtgläubigen Personen, bevorzugt Kriegerfrauen, als Wahrsagerinnen auf, die sie mit allerhand Unfug und Aberglauben bestehlen und betrügen.“ In dieser zitierten Akte des Königlich Sächsischen Ministerium des Innern vom 30. April 1916, wird erstmalig ebenfalls erwähnt: „Auch für die Sicherheit des Reiches bilden die Zigeuner insofern eine nicht zu unterschätzende Gefahr, als sie zur Ausübung der Spionage, für die sie infolge der internationalen Beziehungen, ihres ruhelosen Wanderlebens und ihres skrupellosen Erwerbssinnes, geeignet erscheinen.“

 

Ein besonderes Augenmerk der Behörden galt den Zigeunerkindern. Die Amtshauptmannschaften konnten bei Feststellungen der Nichteinhaltung der gesetzlichen Schulpflicht, wenn sie sich an einem Ort länger aufhielten, die Absonderung der Kinder von den sogenannten Banden vornehmen und die Kinder zur Erziehung in eine entsprechende Einrichtung einweisen. Kontrolliert wurde auch der Zustand der mitgeführten Kinder. Im Amtsdeutsch hieß das, „...wie weit sie sich in einem Zustand der körperlichen und sittlichen Verwahrlosung befinden.“ Zu dem Thema der „sittlichen Verwahrlosung“ kursierte in Lotzdorf lange eine kleine lustige Episode von zwei kleinen Zigeuner-Mädchen, die das ganze Dorf zum Lachen gebracht hatten. Die kleine Geschichte muss sich in der Zeit des Ersten Weltkrieges ereignet haben. Die Mädchen waren Zwillingsschwestern, ungefähr 6 Jahre alt und nannten sich Biene und Hummel. Aufgewachsen in ihrem Zigeunermilieu, waren sie für ihr Alter ungewöhnlich aufgeweckt und pfiffig. Die Zigeunergruppe lagerte schon längere Zeit auf den Röderwiesen außerhalb des Dorfes. Erwachsene Zigeuner durften sich nicht zum Betteln im Dorf blicken lassen, der allgegenwärtige Dorfpolizist hatte ein wachsames Auge auf sie. Also schickten sie zumeist die Kinder zum „harmlosen“ Hüpfen, Springen und Radschlagen auf die Dorfstraßen. Kaum einer konnte diesem fremdländischen Charme, der den geborenen Naturkindern zu eigen war, widerstehen. Bewaffnet mit einem kleinen Tamburin, den sie auch bei Aufführungen der Zigeunertruppe mit ihrem Tanzbären benutzten, bezauberten die kleinen Mädchen die sonst misstrauischen Dorfbewohnerinnen mit kleinen Vorführungen und mit ihren großen schwarzen Kulleraugen. Auch die hartgesottenste Bäuerin entdeckte ihr Mutterherz und so gab es hier ein Glas Milch, da einen Apfel, dort ein Ei...

 

Biene und Hummel ließen natürlich mit ihren täglichen Besuchen auch die kleinen Läden Lotzdorfs nicht aus, die Bäckerei Schramm und die Fleischerei Riemer. Der mit dem Schicksal der Kinder mitfühlende Bäckermeister hatte schon die Kuchenränder für sie reserviert oder mal ein Brötchen übrig, beim Fleischer gab es zumeist ein Scheibchen Wurst - so schlugen sie sich in dieser Zeit des allgemeinen Hungers schon tapfer durch das Menschenleben. Als sie eines Tages wieder den Fleischerladen betraten, in der Hoffnung auf eine kleine Gabe, hatte die Meisterin Riemer einen schlechten Tag und gerade eine ganze Menge Kundschaft im Raum, weshalb sie die zwei kleinen Störenfriede mit unfreundlichen Worten aus dem Laden wies. Nach einer kleinen Schrecksekunde gingen sie auch. Aber, wie auf Kommando drehten sie sich um, rafften hinten ihre Hängekleidchen hoch und zeigten mit der Darbietung des nackten Po der mehr als verdutzten Geschäftsinhaberin samt ihrer aufkreischenden Kundschaft, was sie von diesem unfreundlichen und geizigem Verhalten hielten... So stolzierten sie, mit der den Kindern eigenen Würde, beleidigt aus dem Laden. Als diese witzige Geschichte sich herumsprach, lachte das ganze Dorf über die kleine Frechheit der gewitzten Zigeunermädchen Biene und Hummel. Selbst der sonst so gestrenge Lotzdorfer Gemeindevorstand Pietzsch und sein Dorfpolizist konnten sich ein Lächeln nicht versagen.

 

Renate Schönfuß-Krause

 

Quellen:

 

  • Akte Stadtrat Radeberg, No.2061, Zigeunerplage, 1886-1934
  • Ministerium d. Innern an Kreishauptmannschaften 16. Juli 1886
  • Beschluss Stadtrat Radeberg, Polizeiwesen
  • Ersuchen d. stellvertretenden Generalkommandos v. 22. November 1917 „Abschiebung von Bärenführern und Zigeunerfamilien“