Lese-Version
Kinder der Lotzdorfer Heide-Häuser -
ein Schulweg wie in Kanada
Es erscheint uns aus heutiger Sicht als ein Kuriosum, dass die Lotzdorfer Gemarkungsgrenzen bis an die Dresdner Straße in Radeberg reichten und damit die Heidehäuser in Radeberg bis 1920 zu Lotzdorf gehörten. Das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Kinder, ihre Einschulung erfolgte in ihrem zuständigen Wohnort Lotzdorf, in der Lotzdorfer Schule. Das wäre im Grunde genommen nichts Besonderes gewesen, aber sie hatten dadurch einen nicht alltäglichen Schulweg zu bewältigen.
Ein Gedicht aus dem Jahr 1956 von Elli Kahlisch, geb. Prause, gibt Auskunft über diese außergewöhnliche Schulzeit und den noch außergewöhnlicheren Schulweg. Elli gehörte mit zu den Kindern, die in dem von Karl Micklich auf der Dresdner Straße 90 erbauten Wohngrundstück mit ihren Eltern wohnten (s. Artikel "die Radeberger" Ausg. 09 v. 4.3.2016) und die in ihrer gesamten Schulzeit täglich einen Schulweg von fast 4 km von den Heidehäusern nach Lotzdorf absolvierten: mit dem Schulranzen auf dem Rücken bis zum Bahnübergang, über die Bahngleise, dann entlang der Eselstrappen zum Waldstück der Kühnheide, von dort eine lange Wegstrecke (Kühnheideweg) über das offene Feld bis zum Hohlweg vor Lotzdorf und über die Röderbrücke in das Dorf zur Dorfschule. Das alles bei Wind und Wetter. Im Sommer zumeist auch barfuß, denn Schuhwerk war um 1910/20 ein fast unerschwinglicher Luxus. Und nach Schulschluss ging es den gleichen Weg zurück. Das wäre an sich und zu damaliger Zeit noch kein Grund für eine besondere Erwähnung gewesen, denn wer sein Ziel erreichen wollte, musste das zumeist auf „Schusters Rappen“ tun, also „per Beene“. Keiner kannte es anders, und Jammern war für diese Generationen ein Fremdwort. Aber die damaligen Winter waren lang und extrem kalt, kein Vergleich mehr zu heutigen Temperaturen, und der Schnee fiel in beängstigenden Mengen. Auch die zur Verfügung stehende Bekleidung war für die Kinder spärlich, zum Teil auch ärmlich, denn die Familien mit mehreren Kindern verfügten nicht über die entsprechenden Mittel für ausreichend warme Kleidung oder gar Winterschuhe. Die sogenannte Outdoor-Industrie mit ihren heutigen Verwöhn-Programmen war noch in weiter Ferne.
Das Gedicht, das anlässlich des Lotzdorfer Schulfestes 1956 entstand, gibt Einblick in diese Zeit (Auszug):
„Ach wie schön war‘s damals doch,
als zur Schule wir gingen noch.
Draußen wir vom Heiderande,
die im Dorfe jeder kannte.
Unser frohes, buntes Schößchen,
wir - das war das Heidevölkchen,
wie uns Oberlehrer Gampe,
hatte er gute Laune - nannte.
Wie glücklich war sie, diese Zeit,
war auch der Schulweg mächtig weit,
denn über Schienen, Stock und Stein,
durch Wald und Flur ging‘s Querfeldein.
Die Hohle wurde mitgenommen,
die Röderbrücke dann erklommen-
und endlich war die Schule nah,
nach einer Stunde war man da.
Und erst im Winter – oh herrje-
wenn meterhoch manchmal der Schnee.
Blies eisiger Ostwind ins Gesicht,
wir sahen Weg und Steg oft nicht-
und kamen spät im Schulhaus an,
da sagte wohl der Lehrer dann:
„Die Filzschuh stellt am Ofen warm,
das Heidevölkchen rückt jetzt an-
ganz eingeschneit und durchgefroren
und rot bis hinter beide Ohren.“
Hat ein Gewitter uns erwischt,
so schlimm war das nun wieder nicht.
Der Lehrer Steglich sehr besorgt,
hat trockne Sachen uns geborgt-
von seinem Walter, seiner Lies‘
wenn einer durchgeweicht und mies,
und fröstelnd sehr und regennass,
gedrückt in seiner Schulbank saß.“
In dem folgenden Vers erfährt man sehr detailliert, wer alles in dem Haus am Heiderand Nr. 90 wohnte:
„Habt ihr uns in Erinn’rung noch,
den Naumanns Kurt, den Hans, den Georg,
den Artur, Walter und die Grete -
die Friedrichs Jungs, die Herta und die Käte?
Von Gurts die Viere, lauter Mädels-
die Hannel, Trudel, Elsbeth und Gretel?
Und Prausens beide mit im Tross
Gertrud und Elli – nicht sehr groß?
Die Dreschers noch Helmut, Herta, Helene?
Aus unserm Hause alle -
Doch dann kamen noch jene,
die wir an Nachbars Haustür riefen
und die gemeinsam mit uns täglich
hin zur Schule liefen.
Ein jeder Jahrgang war zu sehn
in dem Geburtsregister 1901-1910.
Ein buntes Schößchen war’s für wahr,
was hinüber stapste zur Schule
Tag für Tag und Jahr für Jahr.“
Aus dem Haus Lotzdorf Nr. 90 am Heiderand waren es allein 19 Kinder, die den gemeinsamen Schulweg zu bewältigen hatten, dazu kam noch die unbekannte Anzahl der Nachbarskinder. Überliefert ist, dass im Winter bei Eis und Schnee immer die großen Jungen als sogenannte „Bahne-Macher“ im Schnee vornweg stapften und die Kleineren in deren Fußspuren dann hinterdrein liefen. Im Gänsemarsch von den Heidehäusern nach Lotzdorf, bei klirrender Kälte und eisigen Winden über tief verschneite Felder und Wiesen. Auf den ungeschützten Hochflächen türmten sich die Schneewehen, in die sie einsanken. Erst wenn der vor den Stürmen schützende Hohlweg (die „Hohle“) erreicht war, hatten die Kinder das Schlimmste überstanden.
Das Gedicht von Elli Kahlisch ist aber auch ein Dankeschön an die Lehrer der damaligen Lotzdorfer Schule. Darin spiegelt sich die besondere Beziehung zwischen den Lehrern und ihren Schülern wider, die diese damals noch kleine Dorfschule auszeichnete. Fürsorge und warmes Mitempfinden spricht aus den Schilderungen, wie die Lehrer sich um das Wohlergehen der ihnen anvertrauten Schüler bemühten. Das hat übrigens seit jeher das Klima an dieser Bildungseinrichtung geprägt, das manchmal fast familiäre Züge hatte, da die alteingesessenen Lehrer schon die Eltern ihrer Schüler unterrichtet hatten. Man kannte sich, fühlte sich verantwortlich. Die Lotzdorfer Schule verfügte zu dieser Zeit über nur einige wenige Klassenzimmer, und es war normal, dass mehrere Jahrgänge in einer gemeinsamen Klasse unterrichtet wurden.
Hervorzuheben ist noch der ebenfalls in dem Gedicht genannte Georg Naumann (1901 Radeberg - 1978 Athabasca/Kanada). Er gehörte mit seinen 5 Geschwistern zu den Kindern aus den Lotzdorfer Heidehäusern. Zumeist soll er damals schon der „Pfadfinder“ auf dem Schulweg für die Anderen gewesen sein, denen er als einer der Ältesten den Weg bahnte. Diese Erfahrungen halfen ihm später in Kanada als Trapper. Denn nur wenige Jahre nach seiner Lotzdorfer Schulzeit und seiner Lehrzeit in der Grundmühle Liegau, begab er sich im Jahr 1926 gemeinsam mit dem Radeberger Präparator, Naturforscher, Großwildjäger und Trapper Max Hinsche (1896 Radeberg - 1939 Rottenmann/Österr.), im Auftrag des Museums für Tierkunde Dresden zu einer mehrjährigen Expedition nach Kanada. Naumann kehrte niemals wieder nach Radeberg oder Lotzdorf zurück. Sicherlich hatte er sich mit diesem außergewöhnlichen Schulweg die Ausdauer und Zähigkeit antrainiert, die für sein entbehrungsreiches, jedoch auch spannendes Leben als Trapper, Naturwissenschaftler und Pionier der frühen lokalen Auffindung und Nutzung der Öl- / Erdgasvorkommen in den Urwäldern Kanadas, am Athabasca River, erforderlich war (s. Wikipedia-Artikel „Georg Naumann“).
Renate Schönfuß-Krause
5.3.2016
Quellen:
Veröffentlicht in „die Radeberger“ Ausg. 10/2016 v. 11.3.2016