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Lotzdorf - Ostern im Kriegsjahr 1916
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Einige auf einem alten Lotzdorfer Dachboden gefundene Stickereien lassen eine besondere Sicht auf die Vergangenheit vor 100 Jahren, im "Kriegsjahr Ostern 1916", aufkommen. Stickereien von Ostern 1916 machen nachdenklich.
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Ostern 1916 in Lotzdorf – Erinnerungen mahnen!

Es ist unser Privileg als Menschen, dass wir Rückschau halten können und damit die Möglichkeit haben, aus der Vergangenheit zu lernen, für die Gegenwart Entscheidungen zu treffen und zu versuchen, Einfluss auf eine bessere, glücklichere Zukunft zu nehmen. Dichter, Philosophen, Wissenschaftler und auch nachdenkliche Menschen hat diese Vorstellung schon immer bewegt, so auch Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der festgestellt hatte:

 

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“. Und auch Goethe (1749-1832) hatte bekannt: „Wer die Vergangenheit eines Menschen nicht kennt, versteht sein Handeln nur schwer.“

Ein Stück dieser Vergangenheit fand sich auf einem Dachboden eines Bauerngehöftes in Lotzdorf. Sorgsam hatten die ehemaligen Besitzer, in einer vor Mäusen sicheren uralten Holztruhe, einige Stücke dieser Sicht auf die Vergangenheit, besser gesagt auf ihre Vergangenheit vor 100 Jahren, aufbewahrt: Stickereien aus dem Jahr1916.

 


Schöne Arbeiten, liebevoll ausgeführt, Schularbeiten aus dem Handarbeitsunterricht der Lotzdorfer Schule, so wie es damals zur Erziehung der braven deutschen Mädchen üblich war. Und dennoch schrecken diese Handarbeiten auch noch nach 100 Jahren auf, denn ein Thema der Stickereien verkörpert den Ersten Weltkrieg mit dem Text: „Kriegsjahr Ostern 1916“. Ausgeführt mit bravem Kreuzstichmuster, ein „E.G.“ weist auf die Schülerin hin, die diese Arbeiten angefertigt hatte. Der Aufbewahrungsort, das Festhalten an diesen Stücken über einen so langen Zeitraum, von denen sie sich offensichtlich nicht trennen konnte oder wollte, ist ein Zeichen dafür, dass diese Stickereien mit  gravierenden Erinnerungen verbunden sein mussten. Mit welchen Hoffnungen oder auch Ängsten und Nöten mögen sie 1916 entstanden sein? Vielleicht sogar schon mit dem schmerzlichen Verlust des Vaters, Bruders oder eines lieben Familienangehörigen? Wir wissen es heute nicht mehr. Fest steht, dass der kleine Ort Lotzdorf bis zum Jahr 1916 bereits 34 Kriegsopfer zu beklagen hatte. Bis 1919 werden es insgesamt 69 Opfer sein. Welches Leid sich hinter diesen Zahlen verbirgt, kann man nur erahnen.

 

Die zum Kriegsdienst eingezogenen Lotzdorfer Männer waren zum größten Teil an der berüchtigten Westfront eingesetzt, einige wenige an der Ostfront. Schon im September 1914, nur wenige Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, waren in Lotzdorf die ersten Todesopfer zu beklagen. Die Benachrichtigungen, die durch das Königliche Sächs. Ministerium des Innern und das Kriegsministerium an das Sächsische Standesamt Lotzdorf verschickt wurden, geben Auskunft über die Sterbeorte in Belgien, Flandern, und Frankreich und die Schicksale dieser jungen Männer.

 

Den Schulen kam für die Erziehung der nachfolgenden Generation in diesen Kriegsjahren die Aufgabe zu, die Überlegenheit und den Durchhaltewillen der Deutschen zu vermitteln, den Stolz auf die Leistungen der Väter und Brüder im Feldzug. Den allgegenwärtigen Tod versuchte man als „Heldentod“ zu verklären. Das Thema Krieg wurde zum Thema des schulischen Unterrichts, ob in Aufsätzen, im Sport, im Handarbeits- oder Musikunterricht. Lieder wie „Maikäfer flieg, mein Vater ist im Krieg ...“ waren neben „harmlosen“ Kriegsspielen, Liedern, Sprüchen und Gebeten die Mittel der Beeinflussung.

 

Im Kriegsjahr Ostern 1916, als die Mädchen der Lotzdorfer Schule, wie überall im Deutschen Reich, zum Sticken von Deckchen für die Frontsoldaten angehalten wurden, hatte die Kriegspropaganda schon alle Hände voll zu tun, um an der sogenannten Heimatfront den Durchhaltewillen für den Krieg zu erhalten. Längst schon glaubte keiner mehr an das schnelle Ende der weltweiten Katastrophe und an einen Endsieg für Deutschland, wie er zu Kriegsbeginn 1914 noch verkündet wurde. Die anfänglich geschürte Euphorie des Jahres 1914 war durch die bittere Realität der Todesopfer, die nur drei Monate nach Kriegsbeginn bereits mehr als eine Million gefallener Soldaten zählte, durch Rationierungen im Heimatland, Lebensmittelknappheit und Mangel an Brennstoffen in Frage gestellt. Ostern 1916 ahnte man noch nicht, dass nur wenige Monate später, im Winter 1916/17, eine unvorstellbare Hungersnot nach einer schlechten Kartoffelernte ausbrechen würde, der sogenannte Kohlrübenwinter, der auch in der Heimat unzählige Todesopfer durch Mangelernährung und Hunger forderte.

 

Gerade das Osterfest, das sinnbildlich für Auferstehung und neue Hoffnung angesehen wird, sollte der Anlass sein, Rückschau zu halten und darüber nachzudenken, wieso es möglich ist, dass wir als vernunftbegabte Menschen immer wieder in den sich ständig wiederholenden Teufelskreis von Krieg, Zerstörung, Wiederaufbau, Wachstum, Machtentfaltung, Unterdrückung, Macht-Missbrauch, Zusammenbruch und erneuten Krieg verfallen?

 

Nur wenn man Vergangenes und Gegenwärtiges in Beziehung zu setzen vermag, kann man Entwicklungen erkennen und diese beurteilen, um damit Deutungen für die eigene Reflexion zuzulassen. Wir sollten wachsam sein!

  

Renate Schönfuß-Krause

www.teamwork-schoenfuss.de

 

Fotos: R. Schönfuß-Krause