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Lotzdorf Flurgrenzen ihre "nachhaltigen" Markierungen
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Den Dorf-Kindern wurde in vergangenen Jahrhunderten bei der Begehung der Flurgrenzen eine besondere Aufmerksamkeit durch die Dorfbewohner zuteil. Die Kinder sollten als die zukünftige Generation der Erben schon frühzeitig die Lage der Grenzverläufe kennenlernen und sich diese als eine Art „Dorfgedächtnis“ auch merken. Damit sie sich die Standorte einprägten, wurden ihnen die Standorte und Eckpunkte der Grenzen regelrecht „eingebleut“...
Eine Methode zum Kennenlernen und Merken waren "Ohrfeigen und Maulschellen für das nachhaltige Gedächtnis der Dorfkinder".
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Ohrfeigen und Maulschellen für das nachhaltige Gedächtnis der Dorfkinder

 

Bevor Pädagogen und Eltern als Verfechter der antiautoritären Erziehung zusammenzucken und in einen empörten Aufschrei über derartige Erziehungsmethoden verfallen, sei darauf hingewiesen, dass es sich dabei um Erziehungsmethoden des 16./17./18.Jahrhunderts handelte. Aber offensichtlich wirkungsvolle.

 

Für Dorfgemeinschaften, wie Lotzdorf, war es im Frühjahr um die Osterzeit alljährlich ein alter Rechtsbrauch im Kurfürstentum Sachsen, die Flurgrenzen zu besichtigen und neu zu sichern. An dieser notwendigen Begehung nahmen zumeist die Bewohner des ganzen Dorfes teil. Bezeichnet wurde dieser Rechtsakt als Flurumgang, Flurbeziehung oder Grenzbeziehung.

 

Im Radeberger Amtserbbuch von 1517 heißt es dazu:

 

„Alle drey ader vier iar Sal sulche grantz besichtiget vnd abegangen werden mit den Jungen anwoneren neben den alden und ab dy alden todes halbin abegyngen das dy Jungen das gedechtnis haben mochten“ (1).

 

Es war üblich, dass Jung und Alt in Gemeinschaft die Flurgrenzen abschritten. Die in Kursachsen gebräuchliche Form der Grenzbezeichnungen auf dem Lande waren die Raine, schmale Grasstreifen zwischen den Feldern als Grenzstreifen (s. Kartenbeispiel Lotzdorf). Diese hatten eine festgelegte Mindestbreite, und bei den Begehungen wurde kontrolliert, ob die vorgeschriebene Breite noch vorhanden war oder ob unrechtmäßig vom Nachbarn eine Furche abgepflügt worden war. Die dauerhafte Festlegung der Grenzen und ihre zukünftige Sicherung wurde durch besondere Grenzpunkte mit erkennbar festen Zeichen festgelegt (Malbäume / zumeist Eichen, aufgehäufte Steine als Grenzhügel, große Feldsteine / Wacken u.a.). Die Flurbegehungen dienten dazu, diese Grenzpunkte zu kontrollieren und bei Bedarf wieder kenntlich zu machen. Im 16. Jahrhundert war das Vorhandensein von urkundlich beglaubigten Grenzsteinen der Ämter noch eine Ausnahme und wurde für die Markierung von Dorffluren erst später, unter Aufsicht der Gerichtsbarkeit, eingesetzt. Sehr oft orientierten sich die Grenzbeschreibungen an Flurnamen, die den Dorfbewohnern über Generationen bekannt waren und die durch diese regelmäßigen Flurbegehungen „aufgefrischt“ wurden. Der Flurumgang der Dorfbewohner erfolgte zumeist mit viel Lärm. Durchaus üblich war es, dass mit Trommeln und Pfeifen die Flurgrenzen umzogen wurden, manchmal auch mit Schießereien. Das Ziel bestand darin, an bestimmten Flurpunkten das Gedächtnis mit einem Erlebnis nachhaltig zu verbinden. Flurkarten waren im 16. Jahrhundert noch nicht vorhanden. Jeder sollte und musste sich merken, wie die Grenzverläufe lagen, um auch bei später eintretenden Streitigkeiten als Zeugen vor dem zuständigen Amt auftreten zu können.

Ausschnitt Karte Lotzdorf 1904 mit Feldwegen als Flurgrenzen;  Quelle: MTB 1904 SLUB/KS 16843 DD
Ausschnitt Karte Lotzdorf 1904 mit Feldwegen als Flurgrenzen; Quelle: MTB 1904 SLUB/KS 16843 DD

Den Kindern wurde dabei eine besondere Aufmerksamkeit durch die Dorfbewohner zuteil. Sie sollten als die zukünftige Generation der Erben schon frühzeitig die Lage der Grenzverläufe kennenlernen und sich diese als eine Art „Dorfgedächtnis“ auch merken. Damit sie sich die Standorte einprägten, wurden ihnen die Standorte und Eckpunkte der Grenzen regelrecht „eingebleut“. Und das zum Teil mit drakonischen Handlungen. So ist im Hauptstaatsarchiv Dresden überliefert, dass es Ohrfeigen und die sogenannten Maulschellen als Gedächtnisstützen und „Erlebnis der besonderen Art“ an wichtigen Grenzpunkten für den Nachwuchs gab. Auch das unverhoffte Übergießen mit einer Kanne kaltem Wasser sollte das Langzeitgedächtnis auf Vordermann bringen. Manche wurden auch mehrmals sehr unsanft auf einen Grenzstein gesetzt, um mit diesem Schmerz ihr Gehirn anzuregen, diese Stelle des Eigentums nie zu vergessen. Aber es gab auch, wenn auch seltener, das Verteilen von Geldstücken an Kinder, was sicherlich ebenfalls den gewünschten Effekt erzielte. Was uns heute fast barbarisch und roh erscheint, hatte jedoch einen tiefen Sinn.

Einer der wahrscheinlich letzten Gemarkungssteine in Lotzdorf - am "Blinddarm"; gefunden März 2016
Einer der wahrscheinlich letzten Gemarkungssteine in Lotzdorf - am "Blinddarm"; gefunden März 2016

Es kam nicht selten vor, wenn über längere Zeit keine Begehungen in Dörfern durchgeführt wurden, dass es zu Streitigkeiten kam und keiner der Dorfbewohner mehr den richtigen Grenzverlauf wusste. Schriftliche Aufzeichnungen waren oft nicht vorhanden, die ehemals Beteiligten bereits verstorben und viele Grenzzeichen, wie Rain-Bäume und Grenzsteine, waren verschwunden oder konnten nicht ausfindig gemacht werden. Trat dieser Fall ein, war der jeweilige Kurfürst mit dem zuständigen Amt in der Pflicht, ein neues Amtserbbuch für den Ort einzurichten. Unter Kurfürst Moritz (1521-1553) waren die Amtserbbücher 1547 erstmalig als Generalinventar angelegt worden, in denen genauestens die landesherrlichen Einkünfte, Befugnisse und Besitzungen festgehalten wurden. So wurde 1627 der Radeberger Amts-Schösser Melchior Richter von Kurfürst Georg I. (1585-1656) beauftragt, für das „Amt Laußnitz“ die Amtsgrenzen neu beziehen zu lassen und zu verrainen, da keiner mehr da war, der die Grenzverläufe kannte (2). Der Amts-Schösser aus Radeberg hatte die Aufgabe, alles neu zu beschreiben, zu vermessen und eine Karte anfertigen zu lassen. Diese Ordnung war für die Landesherren wichtig, bedeutete sie doch, dass die Verwaltung der landesherrlichen Ämter ihren Aufgaben der Erhebung der Einkünfte, der Natural-Lieferungen, Geldzinsen und Frondienste nachkommen konnte. Verletzungen der Grenzzeichen, wie Wegnehmen, Vernichten, Absägen der Bäume, Ausgraben und eigenmächtiges Umsetzen von Grenzsteinen, wodurch zumeist Streitigkeiten der Nachbarn über Generationen entstanden, wurden durch die Ämter gerichtlich verfolgt und in Kursachsen mit Gefängnishaft oder Strafgeldern von 30 Groschen geahndet. In Österreich und Franken stand darauf sogar die Todesstrafe.

 

In Kursachsen wurde in einigen Gegenden das Umpflügen einer Furche vom Grenzrain des Nachbarn mit einer halben Tonne Bier bestraft - aus heutiger Sicht eine fast nette Strafe.

Ob dieses Bier jedoch dann zur Versöhnung gemeinsam getrunken wurde, ist nicht vermerkt...  Aber wohl eher nicht!

 

Renate Schönfuß-Krause

www.teamwork-schoenfuss.de

Quellen:

1.    Loc. 38055/4: Amts- u. Erbbuch Radeberg 1517, Hauptstaatsarchiv Dresden

2.  „Zur Geschichte der Feststellung und Kennzeichnung von Eigentums- und Herrschaftsgrenzen in Sachsen“, Frank Reichert, TU Dresden/6. Aug. 1999

3.    div. Amtserbbücher, Hauptstaatsarchiv Dresden

4.    Kartenausschnitt:  MTB 1904 SLUB/KS 16843 DD

Foto Gemarkungsstein:  K. Schönfuß