Veröffentlicht in "die Radeberger" Nr. 22 vom 1.6.2018
Die zunehmende Industrialisierung im 19. Jahrhundert war Auslöser für einen Strukturwandel in vielen Bereichen. Auch Radeberg und Lotzdorf waren davon maßgeblich betroffen. Durch die sogenannte Bauernbefreiung und die damit einhergehende Landflucht der ländlichen Bevölkerung aus ihren Dörfern in die naheliegenden Städte, kam es mit diesem freigewordenen Potential und Zustrom an Menschen zu einem industriellen Aufschwung in den schnell anwachsenden Fabrikstädten. Diese aufstrebenden Industrieregionen, die städtische Freiheit und eine Zunahme an Kultur und Wohlstand versprachen, zogen vermehrt nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bevölkerungsschichten eines Besitz- und Bildungsbürgertums an. Durch das zunehmende Überangebot ungelernter Arbeiter auf niedrigstem Lohnniveau, zuzüglich der noch billigeren Frauen- und Kinderarbeit, gelang es einer Oberschicht von Unternehmern, Fabrikanten, Kaufleuten, Bankiers einen vorher nie dagewesenen, unvorstellbar schnell anwachsenden Reichtum zu erlangen. Dieser allgemeine Aufschwung bewirkte, dass sich auch andere Berufsgruppen wie Ärzte, Architekten, Lehrer, Professoren, Direktoren, höhere Beamte und Rechtsanwälte im Umfeld ansiedelten. Sie alle waren Bürger, die mehr Geld besaßen, als sie zum Lebensunterhalt der eigenen Familie benötigten, und es wurde in diesen Kreisen modern, einen Teil der Einkünfte für Dienstboten einzusetzen, die eine größere häusliche Bequemlichkeit für die Familie garantieren sollten. Ein neues Statusdenken setzte ein. Das kam auch dadurch zum Ausdruck, dass man sich zumeist in besseren Wohngegenden mit Villengrundstücken ansiedelte.
Man begann, sich Dienstmädchen zu halten, die für wenig Lohn Arbeiten im Haushalt erledigten und mit ihrer Anwesenheit auch den Stand ihres Dienstherrn herausstellten. Die meisten der Dienstmädchen kamen vom Lande. Sie waren Töchter von Landarbeitern, kleineren Handwerkern und Tagelöhnern, die auf den Dörfern keine Anstellung mehr fanden.
Als sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Stadt Radeberg zu einer modernen Industriestadt entwickelte, setzte mit dem Wohlstand der Stadt ebenfalls ein Bauboom mit Stadtvillen ein. Neben den Fabrikanten-Villen der Glaswerksbesitzer wurde vor allem die nah am Stadtzentrum gelegene Radeberger Badstraße zu einem Villenviertel für betuchtere Bürger. In der Zeit ab der 1870-er Jahre bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 entstanden entlang der Badstraße insgesamt 12 besonders repräsentative Stadtvillen im Gründerzeit- bzw. Jugendstil, erbaut für eine gehobenere Bevölkerungsschicht. Das Einwohnerverzeichnis der Badstraße von 1910 gibt Auskunft über das Klientel damaliger Bauherren oder Mieter:
„Baumeister Robert Schmutzler, Paul Schmutzler und Wilhelm Richter, Tierarzt Scheufler, Rechtsanwalt Dr. Jahn, Pfarrer Pfeil, Fabrikant Paul Köckritz, Direktor Adolf Grütter, Schieferdeckermeister Nitzsche, Rechtsanwalt Bachmann, Stadtbaumeister Zopf, Realschuldirektor Oertel, Oberamtsrichter Ehrig, Amtsrichter Krug, die Gärtnereibesitzer Freund, Broßmann und Schulze, Barths Erben.“ Ab 1914 „Prokurist Linke, Professor Oswald, Professor Felix Schwabe, Bürgermeister Otto Bauer, Realschuloberlehrer Dr. Arldt, Professorswitwe Grützner.“ Und 1937 findet man: „Dr. Stintz, bekannter Arzt der Frauenheilkunde im Augustusbad, Kaufmann Max Hirsch, Dr. Teichmann und Glasformenfabrikant Arndt.“
„Gesinde-Zeugniß-Buch“ für die 14-jährige Auguste Wilhelmine Zschiedrich, mit „Personenbeschreibung“. Ausgestellt 4. Januar 1844 vom Stadtrath Radeberg (Stadtschreiber Eduard Panzer, ab Juni 1844 Stadtrichter). Zu beachten ist das Stadtsiegel von 1844
Mit dem Einzug dieser wohlsituierten bürgerlichen Familien in die Villen, die ihre Wohnungen teilweise auch als Etagenwohnungen mieteten, erschien auf der Badstraße gleichzeitig eine kleine Invasion von Dienst- und Kindermädchen. Jeder bessere Haushalt hatte „sein Mädchen“. Die Badstraße wurde im Volksmund zur „Dienstmädchenstraße“. Da die Wohnungen kaum die Möglichkeiten boten, das Dienstpersonal auch mit Schlafgelegenheit im Haushalt unterzubringen, wurden die meisten Mädchen aus dem naheliegenden Lotzdorf eingestellt, wo sie weiterhin bei ihren Familien wohnen bleiben konnten.
In diesen aufstrebenden und gut situierten bürgerlichen Haushalten war das Dienstpersonal weiblich. Zuständig waren sie für alle Arbeiten im Haushalt, bis zur Bedienung der Familie und dem Auftragen der Speisen im herrschaftlichen Speisezimmer. Damit unterschieden sich von dem landwirtschaftlichen Gesinde, das als Magd oder Knecht für die „niederen“, körperlich schweren Arbeiten in Hof und Stall zuständig war. Männliche Dienstboten waren zumeist nur in großbürgerlichen oder Adelshaushalten vertreten, da ihnen gesetzlich mehr Gehalt zustand. Die Gehaltsfrage war jedoch für alle gleich geregelt und in der Gesindeordnung festgeschrieben. So erhielten Dienstmädchen noch um 1937 einen durchschnittlichen Monatslohn, sprich Hungerlohn, von 29 Reichsmark plus Beköstigung, wobei durchaus nicht immer abgesichert war, dass sie sich auch satt essen konnten. Zum Vergleich hatte ein Dienstherr als Professor am Realgymnasium in Radeberg ein monatliches Einkommen von 662,50 RM. Es fand eine unglaubliche Ausbeutung dieser Mädchen und Frauen statt, die bei einem harten 12 Stunden-Arbeitstag einen Stundenlohn von 0,08 RM erhielten und am Tag 0,96 RM verdienten, nicht einmal 1.- RM. Ihre Arbeitszeit betrug täglich mindestens 12 Stunden bis sogar 16 Stunden und richtete sich immer nach den Anforderungen ihrer „Herrschaft“. Das Gewohnheitsrecht der Dienstbotenordnung sah nur jede zweite Woche einen freien Sonntag vor, der jedoch nicht einklagbar war und von der jeweiligen Gunst der Dienstherrschaft abhing. Da diese entsprechend der Gesindeordnung für das leibliche und sittliche Wohl ihrer Dienstboten Sorge zu tragen hatte, war es bezeichnenderweise Pflicht für die Dienstmädchen, am sonntäglichen Gottesdienst in der Kirche teilzunehmen.
Zumeist die erfreulichste und angenehmste Aufgabe der Woche, um einfach einmal in der Kirchenbank „auszuruhen“. Lotzdorfer Mädchen, die ab 1919 die Wahl zwischen Konfirmation und Jugendweihe erhalten hatten, mussten sich als Jugendgeweihte nachträglich konfirmieren lassen. Die Herrschaft besaß das Erziehungsrecht…
Die meisten dieser Dienstmädchen in den privaten Haushalten waren ziemlich rechtlos, unterstanden sie doch noch bis 1918 der Gesindeordnung in Deutschland, die ein Relikt aus der Feudalzeit war. Diese besagte, dass Dienstboten, die rechtlich in den Haushalt ihrer Arbeitgeber eingebunden waren, unter Sonderrecht standen und damit nicht der übrigen arbeitenden Klasse angehörten und allen Anordnungen ihrer Herrschaft Folge zu leisten hatten. Obwohl Dienstmädchen gegenüber Arbeiterinnen sehr schlecht bezahlt wurden, zogen junge Frauen diese Arbeit dennoch einer Fabrikarbeit vor, entsprachen diese Tätigkeiten doch am ehesten dem gängigen Rollenbild für Frauen und bedeuteten zumeist auch die Vorstufe für das spätere Führen des eigenen Haushaltes. Diese Tätigkeiten wurden durchaus als eigene Weiterentwicklung angesehen, denn man wurde als einfaches Mädchen in die höhere Gesellschaft eingeführt, erlernte die Anstands- und Höflichkeitsregeln, gute Manieren und Tischsitten, Tischdecken, Wäschepflege, Kochen, Schneidern und den „feinen Umgang“ mit hochgestellten Gästen der Familie. Für den späteren „Heiratsmarkt“ eine nicht zu unterschätzende Ausgangsposition.
Mit der 1927 erfolgten Gründung der „Verbands-Berufsschule Radeberg und Umgebung“ wurde auch eine Klasse für Hausangestellte eingerichtet, in der die Mädchen eine 3-jährige Berufsschul-Ausbildung erfuhren. Von nun an wurden sie als Hausangestellte oder Hausmädchen bezeichnet.
Vermittlungen und Empfehlungen in diese Dienstverhältnisse erfolgten durchaus über den Lehrer der Lotzdorfer Schule, aber auch den Diakon. Beide Lehrkräfte waren bemüht und daran interessiert, gute und anständige Mädchen in gehobenere Familien zu vermitteln. Die Arbeitgeber suchten verlässliche, arbeitsame und tugendhafte Dienstmädchen, was manchmal gar nicht so einfach war. Deshalb fanden die prägnanten Einschätzungen des Lotzdorfer Lehrers auf den Zeugnissen durchaus Beachtung, die dann auch in dem zu führenden Arbeits- und Dienstbuch eingeschrieben waren. Gute Aussichten auf eine Anstellung hatten sicherlich Lotzdorfer Mädchen wie Christiane Kluge, die als „lebhaft und gesittet“, Eleonore Knoll als „sanft und folgsam“ bezeichnet, andere als „gut und folgsam“, „herzlich und bescheiden“, „sanft und artig“, „leicht aber willig“. Weniger erfolgreich dürften Einschätzungen gewesen sein, wie die einer Eleonore Seidel, die als „hart und widerspenstig“, oder Christiane Karoline Gebauer, die als „plauderhaft“ eingeschätzt wurden.
Renate Schönfuß-Krause
Lotzdorf-Historikerin
11. April 2018
Quellen: