Veröffentlicht in "die Radeberger" Nr. 14 v. 06.04.2018 und Nr. 16 v. 20.4.2018
Als es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Sachsen zu tiefgreifenden Reformen kam, wie die Verabschiedung einer neuen Verfassung am 4. September 1831, dem Edikt der Bauernbefreiung 1832, dem neuen Sächsischem Schulgesetz 1835 und der Einführung der Sächsischen Landgemeindeordnung 1838, veränderte sich die Gesellschaft grundlegend. Besonders für die Dörfer wurden mit diesen regulierenden Eingriffen in die bisherige dörfliche Gemeindeverfassung und die bisherigen feudalen Dienstbarkeiten Grundlagen für eine kommunale Selbstverwaltung geschaffen, und es kam zur Ablösung spätfeudaler Abhängigkeiten. Damit wurde ab 1. Mai 1839 mit dem „Ablösegesetz“ der Dienstzwang aufgehoben, die Erbuntertänigkeit abgeschafft und allen ländlichen Gemeindemitgliedern, die Grundstücke besaßen oder dauerhaften Wohnsitz hatten, der Erwerb von Grund und Boden zugestanden.
Während nun auf der einen Seite im Königreich Sachsen mit diesen gesetzlichen Grundlagen die „Große Politik“ stattfand und durchaus die Weichen für den Fortschritt gestellt wurden, erlebte das Volk weit entfernt davon ihre „Kleine Politik“, die unmittelbaren Auswirkungen und Folgen, die sich in ihrem täglichen Lebenskampf widerspiegelten. Eine Situation, die nicht neu ist und bei derartigen durchgreifenden Neuerungen immer wieder in Erscheinung tritt. Denn, obwohl die bisherigen sozialen Missstände mit dem Königlichen Edikt aufgehoben worden waren und den Bauern mit dem Ablösegesetz die Ablösung von feudalen Lasten und der Erwerb des Hofes ermöglicht wurde, befanden sie sich dennoch in großer Not. Woher sollten sie die finanziellen Mittel für die Ablösung der Höfe nehmen? Das Ablösegesetz, die Ablösungspraktiken durch Kommissionen, die Verschuldungen wurden allgemein als Geißel eingeschätzt. Viele befanden sich in einer fast ausweglosen Situation. Die unvermögenden Bauern und Häusler waren nun gezwungen, die geforderten Ablösesummen mit Krediten und hohen Zinsverpflichtungen, die sie mit der eigens dafür gegründeten „Landrentenbank“ eingehen mussten, für ihre Höfe aufzubringen. Oftmals wurde von ihnen freiwillig der Landbesitz reduziert, um die Verschuldung zu verringern. Viele gaben auch ihre Existenz auf.
Mit der Schuldenlast oder auch der Verkleinerung des Grundbesitzes entstand das nächste Problem: Der Hof konnte nicht mehr alle ernähren. Da die Bauernhöfe bisher über Generationen die Arbeits- und Ernährungsgrundlage für die Großfamilien bedeutet hatte, veränderte sich nun diese Versorgungssituation grundlegend. Der Bedarf an Arbeitskräften auf den Höfen musste verringert werden, denn die erwirtschafteten Überschüsse des Hofes wurden für die Ablösung der Bank-Kredite benötigt. Der Bauernhof, der bisher vielen Menschen sichere Arbeit, Unterkunft und Lohn garantiert hatte, wandelte sich zu einem kleineren Familienbetrieb, in dem nun auch die Arbeitskraft der Kinder noch verstärkt mit einbezogen werden musste.
Die anderen Familienangehörigen, die in diesen bisherigen Großfamilien in der weiteren Erbfolge keine Chance hatten, jemals Hofbesitzer zu werden, sahen ihren einzigen Ausweg nur noch darin, den Hof und ihr Dorf zu verlassen. Sie suchten sich entweder Arbeit als Knechte oder Mägde auf anderen Bauerngütern oder wurden zu „Landflüchtlingen“, die als Arbeiter oder Dienstpersonal in die Städte mit ihrer aufstrebenden Industrie zogen. Die sogenannte „Landflucht“ setzte vom Dorf in die Stadt ein. Aber ebenso setzte ab Mitte des 19. Jahrhunderts, mit dem zunehmenden Anwachsen der Industrie in den Städten, der Verelendung der Arbeiter auf niedrigstem Lohnniveau und der Wohnungsnot in den Ballungsgebieten, wiederum eine „Stadtflucht“ ein. Es erfolgte ein verstärkter Zuzug von Handwerkern und Arbeitern in die den Städten nahegelegenen Dörfer. Fast als ein Schulbeispiel kann man diese Entwicklung an dem Dorf Lotzdorf nachvollziehen. Diese eigenständige Gemeinde wurde zu einem beliebten und preiswerten Wohnort für viele Arbeiter- und Handwerkerfamilien, die in Radeberger Glashütten und Fabriken beschäftigt waren.
Nachweisbar sind diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen auch heute noch, wenn man in den überlieferten Akten der Gemeinde Lotzdorf recherchiert. Dabei erhält das Verhältnis der Gemeindeverwaltung zu ihrer Lotzdorfer Schule eine besondere Brisanz, an der man verschiedene Entwicklungen ablesen kann. Da Schulen schon immer den Spiegel einer Gesellschaft darstellten, waren sie auch schon immer von Veränderungen besonders betroffen. Das geschah auch, als mit dem Königlich-Sächsischen Volksschulgesetz von 1835, dem ersten sächsischen Schulgesetz überhaupt, die bisherige Unterstellung der Schulen unter die Kirche aufgehoben und den Gemeinden übertragen wurde. Die Gemeinde Lotzdorf war damit verantwortlich für ihre Schule geworden und hatte die per Gesetz verordnete achtjährige Schulpflicht und die neuen, wissenschaftlicheren Anforderungen an die Lehrinhalte durchzusetzen. Die zu dieser Zeit von der Gemeindeverwaltung eingeführten tabellarischen Aufzeichnungen über die Schüler von Lotzdorf und die ebenfalls bis 1896 in Lotzdorf eingeschulten Liegauer Kinder sind von großem Wert. Dadurch kann man auch heute noch vieles über mehrere Generationen Lotzdorfer und Liegauer Einwohner, ihre Familienstruktur, ihre Berufe und die gesellschaftliche Stellung erfahren. Nachvollziehbar sind auch die Namen der alteingesessenen Familienstämme, die zum Teil heute noch existieren. Sie waren bis in die 1830-er Jahre alle als Bauern, Häusler, Gärtner oder Hüfner verzeichnet, lebten „als die Alteingesessenen“ unter sich.
Das änderte sich später mit dem Zuzug der Arbeiter und Handwerker aus Radeberg. Die neu hinzukommenden Einwohner veränderten die Bevölkerungsstruktur des Dorfes grundlegend. Sie kamen nun als Fabrikarbeiter, Handwerker, Glaspacker, Glasschürer, Glasbläser, aber auch als Hutmacher, Strohhutnäher, Schuhmacher, Krämer und Gastwirte in das Dorf, das sein Gesicht damit veränderte. Die Aufnahme der zugezogenen Kinder in die Lotzdorfer Schule fand nun auch nicht mehr nur Ostern statt, sondern das ganze Jahr über.
Auf Grund der Eintragungen wird ebenfalls ersichtlich, wie die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Einwohner in Lotzdorf und Liegau waren. Die vielen entschuldigten Fehltage von Kindern in den Sommerhalbjahren, in Größenordnungen zum Teil zwischen 50 bis 100 Tagen, ein Extremfall lag sogar bei 246 Tagen, zeigen sehr deutlich, wie die Kinder besonders im Sommer für Tätigkeiten in dem landwirtschaftlichen Familienbetrieb benötigt und eingesetzt wurden. Zwar wurden die hohen Fehltage vom Lehrer rot gekennzeichnet, aber offenbar in Kenntnis der Situation toleriert. Die Schulzeit wurde von den Hofbesitzern durchaus als verlorene Arbeitszeit angesehen. Die Mitarbeit der Kinder erschien für das Überleben der Familien wichtiger, da man sich für seinen Hof sowieso „keinen Gelehrten“ heranziehen wollte. Eintragungen in Lotzdorf zeigen auch, dass Kinder bereits nach fünf oder sechs Schuljahren von ihren Eltern aus der Schule entfernt und in ein anderes Dorf „in Dienst“ gegeben wurden
Ebenso kamen Kinder als billige Arbeitskräfte von Orten, wie Fischbach, Schönborn, Leppersdorf und Wachau, zu Lotzdorfer Bauern in Dienst. Aus Not schon im Kindesalter von ihren Eltern vermittelt, wurden sie unter der Rubrik „Dienstboten“ verzeichnet und mussten, neben der Arbeit auf den Höfen, ihre 8 Jahre Volksschule absolvieren. Damit ist erwiesen, dass diese „Dienstboten“ in Lotzdorf noch Kinder waren, ohne Schulabschluss und Konfirmation. Kinderarbeit war im 19. Jahrhundert kein Tabu-Thema, sondern eine geduldete, auch erwünschte Selbstverständlichkeit. Nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der Industrie. In den Fabriken arbeiteten ganze Heerscharen bedauernswerter Kinder unter katastrophalen Bedingungen für einen Hungerlohn und erhielten nur einen notdürftigen Elementarunterricht, in den Pausen, nach Feierabend oder an Sonntagen. Kinder arbeiteten in Fabriken bereits mit acht oder zehn Jahren von 4 Uhr an, zumeist 10 bis 12 Stunden, in der Textilindustrie bereits mit 6 Jahren an Webstühlen. Der spätere Marxist Friedrich Engels beschrieb diese Zustände 1839 bereits als 19-jähriger folgendermaßen: „Aber es herrscht ein schreckliches Elend unter den niederen Klassen; (…) syphilitische und Brustkrankheiten herrschen in einer Ausdehnung, die kaum zu glauben ist; schulpflichtige Kinder werden dem Unterricht entzogen und wachsen in den Fabriken auf, bloß damit der Fabrikherr nicht einem Erwachsenen, dessen Stelle sie vertreten, das Doppelte des Lohnes zu geben nötig hat, das er einem Kinde gibt. Die reichen Fabrikanten aber haben eine weites Gewissen, und ein Kind mehr oder weniger verkommen zu lassen, bringt keine Pietistenseele in die Hölle, besonders wenn sie alle Sonntage zweimal in die Kirche geht.“
In der Lotzdorfer Schule wurden jeweils halbjährlich, Ostern und Michaelis, Examen und öffentliche Prüfungen durchgeführt. Verantwortlich dafür zeichnete der Diakon, Pfarrer und Lokalinspektor Heinrich August Kühne, später der Pfarrer und Diakon Teodor Albert Hertel, der ebenfalls der Lokalinspektor der Schule Lotzdorf war. Diese Prüfungen beinhalteten bezeichnenderweise 1839, außer Gesang und Gebet und dem Singen einiger unbekannter Lieder aus dem „Dresdner Gesangbuche“, unter dem Fach „Religion“ den Schwerpunkt:
„Über die Würde des Menschen!“
Renate Schönfuß-Krause / Lotzdorf-Historikerin
4. April 2018
Quellen: