Hier werden im Rahmen des "Jahres der Industriekultur Sachsen 2020" Beiträge zur 500-jährigen Industriegeschichte Sachsens vorgestellt, die einen breiten Themenkreis überstreichen.
Bestrebungen um 1900. Von Renate Schönfuß-Krause
Eines muss man den Radebergern rückblickend wirklich zugestehen, wenn man diese Collage (1) eines unbekannten Künstlers betrachtet, welche vermutlich um das Jahr 1920 entstanden ist – an Visionen mangelte es ihnen nie, wenn es darum ging, sich die Stadtentwicklung im industriellen Zeitalter vorzustellen und zu planen, auch wenn nicht alle Pläne aufgehen sollten.
Die Zeit um 1900 war allgemein geprägt durch Vorstellungen und Wünsche für eine Erweiterung der notwendigen räumlichen Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung. Erforderlich wurde diese in vielfältigen Formen, ob für die Beweglichkeit von Gütern oder von Personen. Es verwundert also nicht, dass die Radeberger in dieser Zeit weiterhin aktiv die Erweiterung ihres Eisenbahnnetzes planten (2), aber auch Ideen für die Inbetriebnahme einer Straßenbahn zur Personenbeförderung entwickelten, mit dem Streckenverlauf vom Bahnhof Radeberg, durch die Stadt über die Dörfer Lotzdorf und Liegau bis zur Röderbrücke bei Klein-Wachau. Sie sollte zur Belebung des innerstädtischen Verkehrs, aber ebenso auch zur Unterstützung des zunehmenden Tourismus in den Liegauer Kurbädern Augustusbad und Herrmannsbad beitragen. Die Planung einer Straßenbahn wurde zu einem Schwerpunkt, der über mehrere Jahre zu einem heiß diskutierten Thema mit mehreren unterschiedlichen Varianten in unserer damaligen Kleinstadt wurde.
Und da es sich um 1900 offenbar um eine Zeit handelte, in der sich seit der Erfindung des ersten Automobils durch Carl Benz 1885/86 alles und alle „auf großer Fahrt“ befanden, verwundert es auch nicht, dass aus Radeberg von einer vorerst kleinen Schmiede und „Wagenwerkstatt Emil Heuer“ um 1900 Anfänge der Karosserieherstellung für die gerade aufkommende Automobilindustrie ausgingen, dass in Radeberg Autokarosserien der Luxusklasse für weltweit bekannte Autohersteller entwickelt und gebaut wurden, was schließlich bis zu dem heutigen „Karosseriewerk Dresden GmbH“ (KWD) mit Sitz in Radeberg führte.
Die Stadt Radeberg boomte um 1900, zog Unternehmer an, hatte Einwohnerzuwachs und befand sich im Aufbruch!
Sachsen plant neue Eisenbahnlinie „Nord-Ost-Bahn“ –
Radeberg plant neue Industrie-Eisenbahnstrecke und einen zweiten Güterbahnhof…
Als Sachsen seine Eisenbahnentwicklung im Zeitalter der Industrialisierung weiter ausbaute und eine direkte Eisenbahnverbindung zwischen Löbau und Riesa plante, die sogenannte „Sächsische Nord-Ost-Bahn“, waren sich die Stadtverantwortlichen Radebergs sofort darüber einig, diese Chance für ihre eigenen Zielstellungen zu nutzen. Längst war der Bedarf einer neuen Industriebahnstrecke mit der Errichtung eines zweiten Güterbahnhofes, durch die Entwicklung der Stadt zu einer Industriestadt, dringlich geworden.
Bei seinen Planungen hatte der Stadtrat vorausschauend erkannt, dass in Zukunft eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Stadt nicht im städtischen Alleingang erreicht werden konnte, sondern nur unter Einbeziehung der Nachbarorte und Landgemeinden des gesamten Rödertales und auch nur unter Berücksichtigung derer Interessen. Als ein Resultat dieser frühen städtischen Planungen ist auch die spätere, am 1. Januar 1920 erfolgte Vereinigung Radebergs mit der bis dahin wirtschaftlich und politisch eigenständigen Gemeinde Lotzdorf zu sehen und zu verstehen.
Ende des 19. Jahrhunderts begann Sachsen die schon länger geplante „Nord-Ost-Bahn“ in Teilabschnitten zu konzipieren, wie die obige Karte zeigt. (3) Mit einem ausgeklügelten Streckennetz sollte der Personen- und vor allem der Güterverkehr von der Oberlausitz bis Riesa durchgängig abgesichert und gleichzeitig auch bisher entlegenere ländliche Gegenden mit Anschlüssen in das Eisenbahnnetz einbezogen werden. Deshalb gab es bereits seit 1891 Bestrebungen des Stadtrates zu Radeberg, zuerst unter dem Bürgermeister August Max Rumpelt (1827-1907), später ab 1895 unter dessen Nachfolger im Amt, Otto Bauer (1850-1916), um die Stadt mit ihren vielen Fabriken in Richtung Norden hin zu erweitern. Angedacht war, neben dem bisherigen Eisenbahnverkehr, eine neue Zuführungsstrecke nach Norden zu bauen und der geplanten „Nord-Ost-Bahn“ zuzuführen, die von Löbau aus über Kamenz bis nach Großenhain verlaufen sollte. Damit war für die Zukunft nicht nur eine kostengünstigere Variante des durchgängigen Güterverkehrs ohne zeitaufwendige Rangier- und Verladearbeiten möglich, sondern in dem bisher wenig erschlossenen nordöstlichen Raum Sachsens würden ebenfalls die wichtigen Streckenanbindungen an Fernbahnen gesichert, u.a. an die zentrale Ost-West-Verbindung Dresden – Görlitz, die ab 1845 von der Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn-Gesellschaft gebaut wurde, und mit einem neuen Anschluss bei Arnsdorf in die Kohlegebiete nach Böhmen führte, sowie nach Nordwesten an die Linie von Radeburg – Priestewitz / Riesa zur Fernbahn Leipzig - Dresden oder über Großenhain an die Fernbahn Berlin – Dresden. Für die aufstrebende Radeberger Industrie mit ihrem zunehmenden Transportverkehr und dem ständigen Kohlebedarf aus den böhmischen Gruben, waren diese Planungen zukunftsorientiert. Aber ebenso für das gesamte Umland entlang der Großen Röder, das bisher fern jeglicher Bahnanbindungen lag.
Der Radeberger Güterbahnhof, als bisheriger Verladebahnhof, war durch seine Lage an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen und nicht mehr erweiterungsfähig. Die Radeberger Stadtväter waren sich darüber einig, wenn Radeberg, das sich um 1900 zu einer aufstrebenden Fabrikstadt entwickelt hatte, seine Stadtentwicklung und sein Wirtschaftsgebiet erweitern wollte, war nur die Ausbreitung der Stadt in Richtung Norden eine Alternative. Die Errichtung eines zweiten Güterbahnhofes im Norden der Stadt, im Gebiet östlich der Badstraße, wurde mit dem Ausbau günstiger Bahnanbindungen durch Industriegleise in Richtung Großenhain als erfolgversprechend angesehen. Unter Führung des Radeberger Bürgermeisters Otto Bauer und des Stadtrates war bereits 1897 eine erste Petition (Bittschrift) an die Königl. Sächsische Staatsregierung ausgearbeitet worden, um: „(…) dem allseitig fühlbar gewordenen Bedürfnisse einer Eisenbahnverbindung zwischen den an der Röder gelegenen Städten nachzukommen“.
Angedacht war eine neue Industrie-Eisenbahnstrecke als Zuführung zu der geplanten Nord-Ost-Bahn. Diese neue Strecke (rote Linie in der Karte) sollte von Arnsdorf aus als Abzweig mit einer Brücke über das Hüttertal (ähnlich der heutigen Staatsstraße 177) führen, vorbei an Radebergs Innenstadt und vom Bahnhof Radeberg aus nur mit Zuführungsgleisen verbunden werden. Weiterhin sollte diese Strecke entlang der Badstraße über einen zweiten Güterbahnhof verlaufen, mit einem Haltepunkt am Augustusbad, und von dort weiter nach Ottendorf führen, um über einen neu zuerbauenden Bahnhof in Radeburg nach Großenhain und zu den Fernbahnen zu führen.(3)
Mit diesen Plänen erhoffte sich Radeberg eine perspektivische Ausdehnung seiner Industrieanlagen im Norden und ein weiteres ausgedehntes Gebiet für industrielle Anlagen in Richtung der benachbarten Ortschaften Kleinröhrsdorf, Leppersdorf, Wachau, Seifersdorf, Liegau und Lotzdorf, die ebenfalls durch die Bahnanbindung erschlossen und davon profitieren würden. Es wurde damals bereits über die Stadtgrenzen hinaus „groß“ gedacht, denn die gesamte Region von Arnsdorf, Radeberg, Ottendorf, Radeburg bis Großenhain bedurfte einer umfänglichen Erschließung als neue Wirtschaftsgebiete.
Übersichtskarte des Eisenbahn-Netzes um Radeberg von den ersten Planungen um 1841 (blaue Linie) über die realisierte Strecke 1845 (grün) bis zum Konzept „Radeberg/Nord – Radeburg mit Anschluss an die Nord-Ost-Bahn“ (rot) um 1900.
Die von den Stadtvätern Radebergs erarbeiteten Petitionen an die II. Kammer der Ständeversammlung des Königreiches Sachsen von 1897, 1899 und 1901 fanden regen Zuspruch in der gesamten Region.(4) Zu den Mitunterzeichnern gehörten neben Radeberg die Städte Radeburg und Großenhain, auch Gutsherren und sämtliche 63 Landgemeinden des Rödertales mit ungefähr 50.000 Einwohnern. (5) Die Radeberger setzten sich ebenfalls für die Interessen des Kurbetriebes Augustusbad bei Radeberg ein, für dessen Kur- und Badegäste die Mobilität mit dem Ausbau der Personenbeförderung, den Möglichkeiten einer bequemen, relativ unkomplizierten Anreise aus allen Regionen Deutschlands, zu einem immer größeren Bedürfnis wurde.(6)
Jedoch diese Planungen, vorerst veranschlagt mit 4 Mio. Mark, sollte sich zunehmend zählebig gestalten. „Amtsschimmel“ laufen bekanntlich nicht immer Galopp. Ziemlich frustriert stellte 1912 der Radeberger engagierte Landtagsabgeordnete der II. Kammer, Georg Alexander Knobloch (1853-1923), fest: „Meine sehr geehrten Herren! Die Petition des Stadtrates zu Radeberg hat das Hohe Haus schon seit dem Jahre 1891 regelmäßig jede Tagung beschäftigt, (…) aber die Angelegenheit „zur Zeit“ auf sich beruhen gelassen“.(7)
Die einst gewünschte schnelle Anbindung an die Nord-Ostbahn war in der Zwischenzeit, es waren 13 Jahre vergangen, bereits zur Legende geworden. Knappe Kassen, ungeklärte Grundstücksverhältnisse, Aufkaufschwierigkeiten bei erforderlichem Landerwerb und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges brachten das Projekt zum Stillstand. Bis zum Kriegsbeginn 1914 wurde nur die kurze Nord-Ost-Bahnstrecke Löbau-Radibor realisiert. Übrig geblieben war im Landtag Dresden einzig das Nachdenken über „das Bedürfnis Radebergs, im Norden der Stadt einen Güterbahnhof zu erhalten“.
Jedoch auch der Güterbahnhof im Norden wurde durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse zu den Akten gelegt. Die Zeiten hatten sich im gesamten Deutschen Reich geändert, die Monarchie musste der Weimarer Republik weichen und man hatte ganz andere Probleme zu bewältigen. Die Eisenbahnlinien sollten bald Konkurrenz durch die neuen Möglichkeiten der Mobilität mit der aufblühenden Automobilindustrie erhalten. Im Jahr 1927 kam es endgültig zur Aufgabe der Pläne einer „Nord-Ost-Bahn“.
Renate Schönfuß-Krause
März 2021
Quellen / Anmerkungen: