Teil 1 der Serie "Widerstandsrecht..."
Hier die ausführliche Fassung mit besonderer Herausarbeitung der Verläufe in Sachsen, Dresden, Radeberg, Lotzdorf.
Viele Illustrationen, mit einer historischen Karte des Kampfgebietes 1849 im Zentrum Dresdens und den Standorten der Barrikaden.
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Erweiterte, überarbeitete Fassung Juli 2022.
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Teil 1
Volk zwischen Gehorsam und Widerstandsrecht;
Sachsen verweigern Gehorsam –
Revolutionäres Aufbegehren 1848/49
Kurzfassung für "die Radeberger" und als Leseexemplar
Dieser Beitrag ist in gekürzter Version veröffentlicht in
"die Radeberger" Nr. 33/2019 vom 16.8.2019.
Zusammenfassung:
Als nach der Niederschlagung des Dresdner Maiaufstandes (3. - 9. Mai 1849) bereits am 16. Mai 1849 die Dresdner Polizei Steckbriefe herausgab, in denen Vaterlands- und Hochverräter benannt wurden, die „wegen wesentlicher Teilnahme an der in hiesiger Stadt stattgefundenen aufrührerischer Bewegung zur Untersuchung zu ziehen, (…) und die im Bedarfsfall zu verhaften sind (…)“, gab es keinen Zweifel mehr: Die bürgerliche Revolution 1848/49 war vorerst endgültig verloren. Unter den gesuchten und verurteilten Aufständischen waren auch Radeberger und Lotzdorfer Einwohner. Ob Liberale oder Demokraten - alle wurden zu Staatsfeinden erklärt, zu Haupträdelsführern, Demokraten I. Klasse, Führern einer Umsturzpartei, die sich bei dem Maiaufstand in Dresden als „Radikalgesinnte“ offenbart hatten. Die Erwartungen vieler Deutscher auf eine große nationale Zukunft, ein einiges Vaterland mit Freiheit, Gleichheit, Demokratie und freien Wahlen, hatten sich damit nicht erfüllt. Das deutsche Volk, im Verbund einer Vielzahl mitteleuropäischer Staaten, hatte mit diesem revolutionären Aufbegehren Gebrauch von seinem natürlichen Widerstandsrecht gemacht, das mit seinem revolutionären Gedankengut auf die liberale Verfassungsentwicklung des Parlamentarismus Englands im 17. Jahrhundert zurückzuführen war. Aber, der Kampf war vorerst vergeblich gewesen. Das deutsche Volk, besonders auch die Sachsen, hatten zwar mit revolutionärem Aufbegehren zu Beginn der Märzrevolution 1848 ihren Herrschern den Gehorsam verweigert, aber in letzter Konsequenz ihre Verfassung des Volkes nicht durchsetzen können, die Monarchie nicht endgültig abgeschafft, sondern auf eine friedliche Lösung mit einer friedlichen Revolution gesetzt und gehofft. Diese lasche Halbheit wurde zum Verhängnis. Die Kräfte der Reaktion konnten sich wieder sammeln und zur Gegenwehr schreiten – das Volk verlor den Kampf und büßte viele seiner Errungenschaften vorerst wieder ein, die sich erst 1919 mit der Weimarer Verfassung verwirklichen sollten. Es war bis dahin zu keiner Gründung einer liberalen Staatsform gekommen, wie es das Ziel der Demokraten und Liberalen gewesen war, die sich alle an dem Vorbild Englands aus der Zeit der Aufklärung orientiert hatten.
Diese Ideen des Liberalismus, der Gewaltenteilung eines Staatswesens, gehen erstmalig auf den englischen Philosophen John Locke (1632 - 1704) zurück. Er wird als einer der bedeutendsten Denker der frühen Aufklärung (1650 - 1800) bezeichnet, denn er war der Erste, der bereits 1689 eine Erkenntnistheorie und in diesem Zusammenhang seine Staatstheorie auf der Basis eines „Gesellschaftsvertrages zwischen Regierung und Volk“ formulierte, die u.a. ein Widerstandsrecht gegen Regierungen für den Fall, dass die Regierung ihre Aufgaben aus dem Gesellschaftsvertrag nicht erfüllt, beinhaltete (Zweite Abhandlung über die Regierung).
Nicht nur zu seiner Zeit kühne Gedanken, die eine Welt verändern sollten.
Locke, entschiedener Verfechter des Widerstandsrechtes, formulierte seine Grundaussagen zusammengefasst folgendermaßen:
Über die Entscheidung, wann der Einsatz des Widerstandsrechtes erfolgen sollte, formulierte John Locke: „Das Volk soll Richter sein“, da die Regierung nur Beauftragter des Volkes sei und nur das Volk entscheiden könnte, nicht der Beauftragte. Damit wurde alles Bisherige durch ihn in Frage gestellt, vor allem auch der Grundsatz zu seiner Zeit: „The King can do not wrong“ (Der König kann nichts falsch machen). John Locke gab das Signal an die Welt, durch rationales Denken alle den Fortschritt hemmenden Strukturen überwinden zu können, auch legal zu beseitigen und abzuschaffen. Selbstverständlich konnte er nicht ahnen, dass sein Parlamentarismus nur dreihundert Jahre später auch „Wandlungen in die Moderne“ erfahren sollte und „Volkes Wille als Auftraggeber“ bei allgemeiner Unzufriedenheit mit den „Beauftragten des Gesellschaftsvertrages“ nicht zwingend zu deren Abwahl führen muss, sondern diese daraufhin Koalitionspartnerschaften eingehen können und einfach bleiben…
In England wurde 1689 auf Grund von Lockes Erkenntnissen ein „Gesetzesentwurf der Rechte“ (Bill of Rights) vom Parlament verabschiedet. Der Monarch stand ab sofort nicht mehr „durch göttliches Recht über dem Gesetz“ - er wurde durch die Regeln des Parlaments zu einer Amtsperson, die dem Gesetz unterworfen war. Die Grundlage für den modernen Parlamentarismus war geschaffen.
Ein neues Denken und Selbstbewusstsein setzte ein. Lockes Erkenntnisse wurden Vorbild späterer Verfassungssysteme, wie der Unabhängigkeitserklärung von Amerika 1776, die sich auf das Widerstandsrecht zur Loslösung von der englischen Krone berief, ebenfalls die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787 und die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ in Frankreich 1789. Weitere zahlreiche revolutionäre Bewegungen und Erhebungen wurden immer wieder von seiner aufklärerisch-liberalen Vertragstheorie geprägt, wenn Volksmassen, wenn „Volk“, von seinen Herrschern gern geringschätzig als Pöbel oder als Pack bezeichnet, unzufrieden wurde. Wenn deren Unmut über Unrecht und Willkür, Selbstherrlichkeit, Nichteinhaltung von Gesetzen durch politische Entscheidungen und Überhandnehmen von Angriffen auf ihre Menschenrechte entgegen des Gesellschaftsvertrages, zum Widerstand führte, dann wurden zumeist Energien freigesetzt, mit denen sie ihren Regierungen die weitere Zustimmung verweigerten und Veränderungen einforderten. Die Gehorsamspflicht wurde gekündigt, das Widerstandsrecht wahrgenommen.
So auch geschehen vor 170 Jahren, als in Dresden am 3. Mai 1849 der Maiaufstand ausbrach. Der König hatte mit seiner Entscheidung, die in Frankfurt a. M. verabschiedete Reichsverfassung nicht anzuerkennen und den Landtag aufzulösen, den Anlass für die Kämpfe geliefert. Ein letzter verzweifelter Versuch demokratischer Kräfte in Sachsen, doch noch eine Republik mit einer Reichsverfassung zu etablieren. Der Aufstand wurde durch königliche Regierungstruppen und preußische Unterstützung bis zum 9. Mai 1849 niedergeschlagen und endete drei Monate vor der endgültigen Niederschlagung der Revolution in den anderen Staaten des Deutschen Bundes.
Dabei war die Revolutionsbewegung 1848/49 durchaus als Hoffnungsträger für liberale Veränderungen in Europa angetreten. Während in Frankreich im Februar 1848 der König gestürzt und die zweite Republik ausgerufen wurde, setzten nach diesem Fanal ebenfalls in Sachsen und den anderen Fürstentümern des deutschen Bundes im März 1848 revolutionäre Unruhen ein. Jedoch die Herrscher durften bleiben. Demokraten und Liberale Kräfte versuchten, langersehnte erste, nahliegende Ziele anzugehen: Freiheitsrechte, Liberale Minister in Regierungen, Liberalisierung des Wahlrechts, Verfassungsänderungen, Pressefreiheit, Bürgerbewaffnung durch Kommunalgarden. Vorerst ging alles gut - die regierenden Fürsten gaben offensichtlich nach. Auch der sächsische König Friedrich August II. (1797-1854) berief liberale Minister in sein Kabinett. „Märzministerien“ wurden eingerichtet, die Presse-Zensur aufgehoben und ein liberales Wahlgesetz für den Landtag erlassen. Weitere Zugeständnisse folgten, und der ganze Aufstand schien in einer „friedlichen Revolution“ aufzugehen. Am 10. April 1848 erließ die sächsische Regierung eine Verordnung für die Wahl deutscher Nationalvertreter für das „zwischen Regierung und Volk zustande zu bringende deutsche Verfassungswerk“ (ein modernerer Begriff für „Gesellschaftsvertrag“), welches dann in der Paulskirche in Frankfurt a. M. erarbeitet wurde. Der Wahlkampf wurde vom Vaterlandsverein und vom Deutschen Verein geführt, wobei bereits damals festgestellt wurde, dass „Parteiwesen über Gerechtigkeit siegte“.
Auch Radeberger und Lotzdorfer Kandidaten traten auf. So wurden mehrmalig der Arzt und Bürgermeister von Radeberg, Dr. Kuntzsch, und der Lotzdorfer Ablösungskommissar und Freigutsbesitzer Wilhelm August Ernst Haden (1800-1882) als Abgeordnete in Wahllisten geführt. Im Sommer 1848 veränderte sich die Lage - die Konterrevolution begann, denn Herrschaft gibt bekanntlich keiner freiwillig ab. In Wien wurde ein Exempel statuiert. Robert Blum, Parlamentarier der Frankfurter Nationalversammlung, wurde ungeachtet seiner Immunität als Abgeordneter standrechtlich erschossen. Die Frankfurter Nationalversammlung war machtlos. Als sie ihr Verfassungswerk am 28. März 1849 beendet hatte, war es bereits zu spät. Sie konnte weder die Reichsverfassung noch die Zielstellung einer konstitutionellen gesamtdeutschen Monarchie durchsetzen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte seine Wahl zum Kaiser und die Verfassung in offener Gegnerschaft ab, „an der der Ludergeruch der Revolution klebe“. Sofort folgten ihm die anderen Fürsten. Damit scheiterten Verfassung und deutsche Einigung.
Friedrich August II. von Sachsen offenbarte sich jetzt ebenfalls offen als Gegner dieser Staatsform, die seine bisherige Macht eingeschränkt hätte. Am 28. April 1849 stellte sich der König gegen den Volkswillen, löste den Landtag auf und lehnte die Reichsverfassung ab. In Dresden brach offener Widerstand aus. Eine allgemeine Volksbewaffnung wurde vorbereitet, um in letzter Minute mit Waffengewalt die Annahme der Verfassung in Sachsen zu erzwingen. Am 3. Mai 1849 begann der sogenannte Maiaufstand. Ziel war es, die Errungenschaften der Märzrevolution zu retten und bürgerliche Grundrechte durchzusetzen. Das Zeughaus wurde gestürmt, bewaffnete Turnvereine besetzten das Landhaus, in den Straßen der Innenstadt wurden zahlreiche Barrikaden errichtet.
Dem sächsischen König erging es wie allen unbeliebten und beim Volk verhassten Herrschern, die zunehmend den Volksunwillen und Volkszorn fürchten müssen und um Leib und Leben bangen - ihn überfiel das große Zittern. Er gab noch Befehl an die Reitende Artillerie in Radeberg, die Augustusbrücke zu sichern, dann floh er am 4. Mai 1849, früh um 4.30 Uhr, mit Königin und allen Ministern aus Dresden per Dampfschiff auf die Festung Königstein. Sachsen war plötzlich ohne Führung. Eine provisorische Regierung wurde einberufen, die am 5. Mai an alle Ortschaften Befehl erteilte, ihr „Zuzug zu leisten“. Alle sächsischen Kommunalgarden wurden mobilisiert und sollten zur Verteidigung in Dresden anrücken. Darunter auch die Kommunalgarden aus Radeberg und Lotzdorf, wobei nur die Lotzdorfer dem Befehl nachkamen. Am 6. Mai meldet sich das zurückgekehrte königliche Ministerium ebenfalls wieder und gab den Gegenbefehl, alle sollten zu ihrer Pflicht gegenüber dem König zurückkehren. Das Chaos konnte nicht größer sein. Als die Barrikadenkämpfe begannen, waren viele Dresdner Künstler und Intellektuelle beteiligt, wie der Hofkapellmeister Richard Wagner und der Baumeister Gottfried Semper, beide bekennende Republikaner. Die Kämpfe fanden vom 7. - 9. Mai 1849 statt, und der Aufstand wurde durch die Übermacht der Regierungstruppen und hinzugezogene preußische Truppen niedergeschlagen. Dresden kam unter den Belagerungszustand. Viele waren im Kampf gefallen, wer von den Revolutionären nicht mehr fliehen konnte, wurde gefangengenommen, in der Frauenkirche arrestiert, gefoltert oder gleich umgebracht und in die Elbe geworfen. Der Dresdner Maiaufstand, als Erhebung innerhalb einer Vielzahl gesamteuropäischer Kämpfe für mehr Freiheit und Liberalität, war damit am 9. Mai 1849 gescheitert.
Die folgenden „Säuberungsaktionen“ der vom zurückgekehrten sächsischen König eingesetzten erzkonservativen Regierung wurden mit aller Härte durchgeführt. Fieberhaft wurde steckbrieflich nach flüchtigen oder untergetauchten Demokraten und Republikanern gefahndet, Haupträdelsführer gesucht, die zu hohen Zuchthausstrafen, Todesstrafen oder Landesausweisungen verurteilt wurden. Auch Radeberger und Lotzdorfer waren darunter. So wurde der Radeberger Advokat Theodor von Polenz, der aktiv an dem Aufstand auf den Barrikaden teilgenommen hatte, vom Appellationsgericht 1850 wegen „Verbrechen des Hochverrats“ zu 8 Jahren Zuchthaus Ersten Grades und der Erstattung aller Untersuchungskosten verurteilt. Ebenso der Sohn des Radeberger Apothekers Dammann. Ein besonders hartes Urteil und Schicksal erfuhr der Rechtskandidat Gustav Haden aus Lotzdorf, Sohn des Freigutsbesitzers Wilhelm August Ernst Haden. Gustav Haden war in Lotzdorf zum Hauptmann der Kommunalgarde gewählt worden und hatte diese nach Dresden geführt. Wegen seiner Teilnahme an der Revolution wurde er in Erster Instanz 1850 und in Zweiter Instanz 1851 jeweils zum Tode verurteilt, dann wurde das Urteil auf 15 Jahre Arbeitshausstrafe gemildert, schließlich wurde er zur Auswanderung begnadigt. Am 23. Dezember 1852 aus dem Zuchthaus entlassen, fuhr sein Schiff im Januar 1853 von Hamburg nach Amerika, wo er fortan in New York lebte. Viele Radeberger, nur bekannt als Demokraten oder Liberale, wurden denunziert und konnten von Glück reden, wenn ihre Prozesse nach jahrelangen Untersuchungen glimpflich abliefen, wie der des Schuldirektors Ernst Heinrich Rausch.
Den Weg ins Asyl ergriffen nach der Niederschlagung der Revolution und den darauffolgenden Jahren der Verfolgung mehr als 247.000 Deutsche. Es sollten nochmals siebzig Jahre vergehen, bis 1919 endlich eine „Verfassung des Deutschen Reiches“ als erste demokratische Verfassung Deutschlands verabschiedet werden konnte, die in Teilen Forderungen der Paulskirchenverfassung von 1848/49 enthielt. Auch in das heute geltende Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland fanden sie Eingang als Grundgedanken der Demokratie: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt“. Es wurde ebenfalls zugestanden, dass es zu den Rechten eines jeden Menschen gehört, sich unter bestimmten Bedingungen gegen staatliche Gesetze oder Maßnahmen aufzulehnen und den Gehorsam zu verweigern. Die Thesen John Lockes haben bis heute nichts an Brisanz eingebüßt. Seine Grundgedanken des „Widerstandsrechts eines Volkes“ wurden mit dem in Art. 20 Abs. 4 GG gewährten Recht zum Widerstand seit 1968 auch Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der BRD:
„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
©Renate Schönfuß-Krause
August 2019
Quellen: